«Exil ist ein doppelter Grund, nirgendwo einheimisch zu werden», eine Aussage des 75jährigen Dichters Jochen Kelter, die auf viel mehr verweist, als auf das Geographische. Aber wenn Jochen Kelter irgendwo zuhause ist, dann in der Sprache, in der Dichtung, seiner Lyrik.
Schreibe dem Wesen der Dinge
Zeile für Zeile den Ton deiner
Seele ein deiner Zeit und das
Grauen der Macht die allein
sichtbar werden im Licht einer
denkenden Pupille auf dem Papier
(aus «Fremd bin ich eingezogen», Caracol Lyrik, 2020)
Moderator Urs Faes verstand es auf eindrückliche und einfühlsame Weise, das Publikum an die neuen Gedichte Jochen Kelters heranzuführen. Jochen Kelter, der ein Leben schreibt, sein Leben schreibt, auf die Welt und die Zeit mit Dichtung und Sprache reagiert, wohl aus den Momenten heraus, aber immer durch den Filter einer intensiven Auseinandersetzung.
«Wörter sind Zeitritzen.»
Jochen Kelter ist ein Heimatloser, der aber klar und deutlich zu Heimat, Zeitgeschehen, bis hinein in die Politik, Stellung bezieht, sei es in seinen Romanen, Erzählungen, seinen Essays und mit Sicherheit in seiner Lyrik. In diesem und im letzten Jahr gar mit zwei Gedichtbänden, beide im neu gegründeten Caracol Verlag erschienen und arg bedrängt durch die Umstände der Zeit. Umso wichtiger für den Dichter, dem zu seinem 75. Geburtstag das schreibende und mitfühlende Gegenüber seines Dichterfreundes Urs Faes zu einem Geschenk wurde.
Try and catch the wind
Versuch ihn zu fangen den Wind
versuche die Zeit anzuhalten
die Gelegenheit kommt so bald nicht
wieder beim Marsch auf Washington
I had a dream war nie die Chance
so gross die Welt zu verändern einen
Sitz im Bus neben einem Weissen
zu erklimmen die Blechhütten
zu verlassen the times they are
a-changing geht nicht in den Krieg
nach Vietnam für die Kriegsherren
die jedes Mass verlieren auf
euren Knochen sondern help us raise
raise the prisons to the ground
nie sei sie glücklicher sagt Joan Baez
als wenn ihr Einsatz für Menschsein
und die singende Stimme eins würden
Zivilcourage Kunst zu Zivilcourage
wird gesegneter war Amerika nie
seiner hellen schwarzen Seele näher
die Fotografien beinahe vergilbt
(aus «Im Grauschlaf stürzt Emil Zátopek», Caracol Lyrik, 2021)
Das Wunder der Literatur spiegelt sich in der Lyrik des Altmeisters, der in seinen Anfängen auch schon «unter Polizeischutz» aus seinen Büchern vorlas, weil er in seinem Schreiben, selbst in seiner Lyrik, kein Blatt vor den Mund nimmt. Jochen Kelter macht kleine Momente zu grossen Worten, zarte Melodien zu ernsten Themen, gibt pointierten Sätzen leise Sohlen. Es sind Blicke in tiefe Vergangenheit, manchmal warm, manchmal beissend. Blicke auf die Gegenwart ohne Sentimentalität, aber mit der Kraft eines Mannes, der durch den kleinen Augenblick in die Tiefen blicken kann. Flüchtiges wird zu Wichtigem, manchmal sogar durch Bilder und Figuren wie die Engel, die auf den ersten Blick so gar nicht zum Dichter zu passen scheinen.
«Nur was versehrt ist, spricht wahr.»
Jochen Kelter ist 1946 in Köln geboren. Studium der Germanistik und Romanistik in Köln, Aix-en-Provence und Konstanz. Lebt seit 50 Jahren auf der Schweizer Seite des Bodensees in Ermatingen (von 1993 bis 2014 zudem in Paris). Lyriker, Erzähler, Essayist. 1988 bis 2001 war er Präsident des European Writers’ Congress, der Föderation der europäischen Schriftstellerverbände, und von 2002 bis 2010 Präsident der Schweizer Urheberrechtsgesellschaft ProLitteris. Jochen Kelter hat Lyrik aus dem Italienischen, Französischen und Englischen ins Deutsche übersetzt. Er ist Mitglied des AdS (Autorinnen und Autoren der Schweiz) und des PEN-Zentrums Deutschland.