Eine junge Frau bestimmt ihren ganz eigenen Weg. Nicht nur, dass sie die Brandruine ihres Elternhauses wieder aufbaut. Elena bricht aus der Schale des Gewohnten, um Verlorenes zurückzugewinnen. Der neue Roman von Fanny Desarzens besticht durch die Prägnanz seiner Sprache und in der Poetik seines Klangs.
Einmal einen Baum pflanzen, einmal ein Haus bauen, einmal zu einer grossen Reise aufbrechen, einer Reise hinein, einer Reise hinaus. Elena ist stecken geblieben, wohnt in einer winzigen Wohnung in der Stadt, ganz am Ende einer Strasse, auf Höhe der Passanten. Ihren Lebensunterhalt verdient sie in einem alten Kino, nicht weit von ihrer Wohnung. Sie ist weggezogen aus dem Haus ihrer Eltern, besucht sie dann und wann, auch wenn sie vieles dort nicht verstehen kann. Nicht zuletzt die Resignation im Leben ihrer Eltern. Eine Resignation, die sich wie ein Sack über ihr eigenes Leben stülpte. Eine Resignation, die sie gefangen nimmt in einem leeren Raum dazwischen.

aus dem Französischen von Claudia Steinitz, 128 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-7152-5048-9
Rose, ihre Schwester, hat den Absprung geschafft. Auch sie wohnt ganz in der Nähe, zusammen mit Clément, der ihr wie ein Bruder geworden ist. Auch Jean, ihr bester und vielleicht einziger Freund, hat den Absprung geschafft. Wenn auch in einer ganz anderen Intensität. Er ist nach Kanada ausgewandert, bewirtschaftet dort weit weg von allem anderen eine kleine Farm mit ein paar Tieren, viel Stille und einem weiten Horizont. Sein Wegzug, sein Leben in der Ferne war eine Flucht. Elena schreibt ihm Briefe. Er ihr zurück. Jetzt, so weit voneinander entfernt, spüren sie das, was damals, als Jean noch da war, so nicht zu spüren war. Liebe. Sie schreiben sich Briefe, um sich dem andern zu versichern, um trotzdem da zu sein, denn sie spüren beide, wie nah sie am Abgrund taumeln.
Ich glaube, ich bin nichts geworden.
Obwohl ihr Vater Handwerker ist, hat er nie den Versuch unternommen, sein Haus, das er einst eigenhändig gebaut hatte, wieder aufzubauen. Zu gross der Schmerz, zu wenig von dem, was dem Vater an Kraft geblieben ist. Die Brandruine steht noch immer am Rand des Dorfes, aus dem die Eltern nie weggezogen waren. Ein Ort, der gemieden wird. Ein Unort. Der Ort, der daran erinnert, dass da einmal etwas gewesen war; ein Stück Heimat, ein Zuhause, eine kleine, intakte Welt, in der sie und ihre Schwester Königinnen waren.
Elena spürt, dass es nur einen Weg geben kann, wie sie sich aus ihrer Lethargie bewegen kann. Mir ist, als wäre ich gestürzt und müsste mich weder aufrappeln. Elena leiht sich den grossen grauen Lieferwagen ihres Vaters und fährt mit ihm hinaus zu dem, was von der Ruine geblieben ist. Sie reisst nieder, entsorgt und entrümpelt. Sie verbrennt das übrig gebliebene Holz und nimmt Kontakt auf mit Victor, dem ehemaligen Freund ihres Vaters, der im gleichen Ort eine Sägerei betreibt. Sie beginnt, wofür ihrem Vater die Kraft fehlte. Sie baut auf, was den Flammen zum Opfer fiel. Sie baut, obwohl Vater, Mutter und Schwester nur schwer nachvollziehen können, was Elena mit ihren Absichten bezwecken will. Sie baut und schreibt Jean, schreibt ihm Briefe von ihrem Leben, das sie wie das Holz, wie Werkzeug in die Hand genommen hat. Vielleicht schreibt sie ihm auch, weil sie in den Zeilen des Freundes in der Ferne von einer unstillbaren Traurigkeit liest. Der Bau dieses Hauses wird zu einer Arche, eine Arche für all das, was ihr wichtig ist, was sie in ein neues Leben mitnehmen will.
Ich fühle mich gut, wenn ich dort bin. Weil ich weiss, dass ich da bin, wo ich sein möchte.
Im Subtext dieses Romans stellt Fanny Desarzens existenzielle Fragen, ohne sich damit aufdrängen zu wollen. Es ist die Geschichte einer Liebe und gleichzeitig die Geschichte um die Angst, die Liebe verloren zu haben oder verlieren zu müssen. Ihr Roman ist gebaut wie ein schlichtes Haus. Aber wenn man darin steht, riecht man das Holz, hört man die Stille, spürt man den Frieden, auch wenn darin viel Trauer verpackt ist. Fanny Desarzens erzählt leise, zärtlich. Ein Roman mit Sätzen, die sich tief eingraben:
Man kann sich der Liebe, die einem jemand schenkt, nie sicher sein. Aber der, die man für den anderen hat, der schon.
So fein und eindringlich dieser Roman, so sehr wünsche ich ihm, dass man ihn liest!
Fanny Desarzens, 1993 geboren, hat an der HEAD in Genf den Studiengang Bildende Kunst abgeschlossen. Für ihr Debüt «Berghütte» wurde ihr ein Schweizer Literaturpreis 2023 und der Terra Nova Preis der Schweizerischen Schillerstiftung verliehen. Auch «Chesa Seraina», ihr zweites Buch, wurde mehrfach ausgezeichnet. Fanny Desarzens lebt in Lausanne.
Claudia Steinitz hat Bücher von Véronique Olmi, Virginie Despentes, Albertine Sarrazin und vielen anderen ins Deutsche gebracht. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2020 mit dem Jane Scatcherd-Preis. Sie lebt in Berlin.
Beitragsbild © EYSTONE/Peter Klaunzer