Dass sich Kinderwunsch und Kindeswohl mehr als nur streiten können, wie zerstörerisch Kräfte freigesetzt werden und alles auf eine nicht abwendbare Katastrophe hinausläuft, davon erzählt Evelina Jecker Lambrevas aktueller Roman „Im Namen des Kindes“.
Die Welt tut, als wäre die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind gottgegeben. Ebenso heuchlerisch ist die Selbstverständlichkeit, Kinder müssten ihre Eltern lieben. Dass das Familiengeflecht filigran ist, wie sehr Fallgruben, Untiefen und ein labyrinthischer Unterbau jene kleinste Zelle der Gesellschaft zu einem immerwährenden Mysterium werden lassen, lehrt uns nicht nur die Psychologie. Die griechische Sagenwelt ist voller innerfamiliärer Grausamkeiten. Der Begriff Familie suggeriert Geborgenheit, Liebe, Heimat. Die Liste der Begriffe, die sich mit Familie kombinieren lassen, ist ebenso lange wie die Möglichkeiten des Entgleisens, die sich hinter wohlgehüteten Fassaden ereignen können.
Evelina Jecker Lambreva erzählt in ihrem Roman „Im Namen des Kindes“ von einer solchen Katastrophe, einer sich durch ein ganzes Leben hinziehende, nicht enden wollende Katastrophe. Davon, dass Kinderwunsch und Familienträume nicht unweigerlich in jenes Idyll resultieren, dass an sonnigen Sonntagen allerorten präsentiert wird. Davon, dass aus trautem Familienideal auch ein Gefängnis werden kann, Einzelhaft ohne Fluchtmöglichkeit, ein Martyrium ohne Ende.
Eine junge Frau verschwindet. Polizei und Therapeutinnen sind sich nicht sicher, ob die Frau nur untergetaucht ist oder sich gar etwas angetan hat. Maya, ehemalige Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin einer Opferberatungsstelle kennt die junge Frau, sass ihr mehrmals gegenüber, gewann das Vertrauen der jungen Frau, die zwar nicht von Angesicht zu Angesicht aus den Tiefen ihres Lebens berichtete, aber in langen Briefen. Von einer narzistischen Mutter, der sie schon als kleines Kind nichts recht machen konnte, von immerwährenden Streitereien zwischen Mutter und Vater, von Gewalt und schrecklichen Drohungen, von Ängsten und Verunsicherungen. Vom Tod ihres Vaters und der absoluten und absurden Konzentration einer Mutter auf ihr einziges Kind. Einer tiefen Hassliebe beider und der Unmöglichkeit, selbst mit der Volljährigkeit der Tochter durch Distanz einen Riegel vorzuschieben.
Rebecca haut ab, taucht unter, besucht die einzige Frau, von der sie als Kind jene Liebe bekam, die man hätte Mutterliebe nennen können – Herminija. Sie nimmt den Zug über Mannheim bis nach Amsterdam.
In der gleichen Zeit geistern zwei Schreckensmeldungen durch die mediale Tagesaktualität: Zwei Ärzte sterben unerklärlich, der eine unter einem Zug, der andere durch Messerstiche.
Was der Polizei erst nach und nach klar wird, wird auch mir als Leser erst langsam klar, auch wenn man sich beim erneuten Lesen des Buches die Augen reibt, weil man sich bei der Lektüre nie von der schlimmst möglichen Variante leiten lässt.
„Im Namen des Kindes“ hätte ein Krimi werden können, ist er aber nicht. Evelina Jecker Lambreva schrieb als noch immer praktizierende Psychiaterin und Psychotherapeutin auch keine literarisches Fallbeispiel einer problematischen Tochter-Mutter-Beziehung und ihrer katastrophalen Auswirkungen. „Im Namen des Kindes“ ist Auseinandersetzung! Nicht jedes Leben ist automatisch ein Geschenk. Die Medizin kümmert sich mit künstlicher Befruchtung um potenzielles Mutter- und Familienglück. Ob jenes vermeintliche Glück automatisch das Glück jenes Kindes ist – davon erzählt dieser Roman. Davon, wie chancenlos jeder Ausbruchsversuch aus einem krankhaft besitzergreifenden Muttergriff sein kann. Wie bodenlos jenes Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Evelina Jecker Lambreva schildert das Leiden von der ersten Seite weg. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass es nur die Flucht nach innen geben kann. Eine Flucht, für die Rebecca einen hohen Preis bezahlen muss, eine Flucht, bei der es keine Rettung geben kann. „Im Namen des Kindes“ ist deshalb nichts für zart Besaitete, weil man den Roman nicht als Krimi gut unterhalten weglegen kann. „Im Namen des Kindes“ ist viel mehr.
Interview
Gegenwärtig setzen wir uns in allerlei Diskursen heftig mit Rollenbildern auseinander. Auch in der Familie gibt es Rollenbilder, die sich über Jahrhunderte in unserem Bewusstsein oder auch Unterbewusstsein eingraviert haben. Die fürsorgliche, liebende Mutter, das folgsame, dankbare Kind. Wäre dieses Rollenbild nicht beinahe genetisch verankert, würden doch nicht Heerscharen von jungen Menschen noch immer ins Abenteuer Familie starten!
Inzwischen verändert sich das Rollenverständnis der Frau bei den Frauen selbst und in der Gesellschaft zunehmend. Ich beobachte diesen Prozess der Veränderung seit 15-20 Jahren. Heute gibt es immer mehr Frauen, die offen dazu stehen, dass sie keinen oder nur einen schwach ausgebildeten Kinderwunsch haben, und zwar derart, dass sie sich ein Leben auch ohne Mutter zu sein vorstellen können. Sie verbinden ihr Frau-Sein nicht mehr zwangsläufig mit einem Mutter-Sein. Es gibt auch viele junge Paare, die sich aus verschiedenen Gründen freiwillig gegen einen Kinderwunsch entscheiden. Zwar ist der gesellschaftliche Druck der Rollenerwartungen auf Frauen noch immer hoch, in entsprechend traditionellen Rollenbildern zu leben, aber immer mehr junge Frauen entziehen sich diesem Druck. Wenn sich zwei Menschen heute entscheiden, eine Familie zu gründen, machen sie es immer häufiger aus Überzeugung, und nicht um familiäre und/oder gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen.
Ein Dürrenmatt-Zitat im Vorsatz zu Deinem Roman heisst „Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat.“ Dürrenmatts Kriminalromane beschreiben genau dies, eben genau im Gegensatz zu all den Tatortfolgen, die einem eine stets sauber aufgeräumte Geschichte präsentieren. Rebecca, die junge Frau in deinem Roman, übt Selbstjustiz. Gerechtigkeit ist keine Norm. Ist Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches?
Gerechtigkeit ist zwar keine Norm, aber sie hat Bezug zu moralischen und ethischen Verhaltensnormen. Das Problem, das ich sehe, ist, dass in der narzisstischen Wunscherfüllungs-Gesellschaft der Postmoderne die Individualnorm, das heisst die Norm des Einzelnen (oder die Norm von kleinen Gruppen) zunehmend das Verhalten in der Gesellschaft prägt und immer mehr Platz einnimmt. Ich befürchte, dass inzwischen je länger je mehr die Vielfalt individueller Normen und individueller Wertmassstäbe, die Vielfalt der Auffassungen von Gerechtigkeit bestimmt. Somit öffnet sich natürlich auch die Tür für mehr Selbstjustiz. Ob in diesem Sinn Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches ist, bleibt für mich völlig offen.
In einer kurzen Korrespondenz hast Du verraten, dass Du Dich sechs Jahre mit diesem Buch auseinandergesetzt hast, dass es unsäglich viele Fassungen davon geben musste, bis Du die finale gefunden hast. Was hat Dich bewogen, nicht einfach den Bettel hinzuschmeissen?
Im Verlauf der jahrelangen Arbeit am Text habe ich Rebecca und Maya viel zu sehr liebgewonnen, um sie aufgeben zu wollen. Im Schreibprozess habe ich die beiden immer besser kennengelernt und immer mehr in sie hineingehorcht. Rebecca und Maya wollten unbedingt, dass ihre Geschichten vor einer Leserschaft in Erscheinung treten. So war das.
Rebecca ist in einem Gefängnis eingesperrt, aus dem kein Weg führt, schon gar nicht jener über die Justiz. Kliniken, Spitäler, Praxen sind voller Menschen, die sich nur schwer oder gar nicht befreien können. Sind PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen GefangenenwärterInnen?
Das ist doch das Ziel einer jeden Psychotherapie: dass es dem betroffenen Menschen mit therapeutischer Hilfe gelingt, sich innerlich und äusserlich weitgehend zu befreien – von den Dämonen der Vergangenheit, von der inneren Gefangenschaft in sich selbst, von selbstdestruktiven Gedanken und Handlungen, von verinnerlichten Elternbildern, die einem im Weg stehen, die man aber trotzdem nicht gehen lassen kann, von Ängsten, die das Individuum daran hindern, sich weiter zu entwickeln und als gleichwertiger Mensch, zusammen mit den anderen Menschen im Leben fortzuschreiten. In diesem Sinn hat die hilfeleistende Aufgabe von PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen nichts mit GefangenenwärterInnen zu tun. Selbst dann, wenn eine Fürsorgerische Unterbringung nötig wird, wird diese zum Schutz des Patienten vor sich selbst oder zum Schutz von Drittpersonen ausgeführt. Und diese Unterbringung dauert nur so lange, bis keine Gefahr für das eigene Leben des Betroffenen oder für das Leben anderer mehr droht. Aber auch in solchen extremen Situationen ist der leidende Mensch nicht einer psychiatrischen Institution hilflos ausgeliefert. Er kann sich auf rechtlichem Weg gegen die Fürsorgerische Unterbringung wehren.
Rebeccas Mutter ist eine Narzisstin. So wie sie die Familie terrorisiert, terrorisieren auch all die Narzissten auf der grossen Bühne der Weltpolitik das Gros all jener, die ihnen ausgeliefert sind, die sich nicht wehren können. Warum ist Rebecca ihrer Mutter gegenüber wie gelähmt? Warum schaffen es Narzissten, durch Propaganda ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten?
Oft kann die bewusste oder unbewusste Ambivalenz, die wir unseren Eltern gegenüber empfinden, sehr lähmend sein. Je stärker diese Ambivalenz ist, desto lähmender wirkt sie sich auf die Beziehung zu den Eltern aus, insbesondere auf die Beziehung zu diesem Elternteil, von dem man für sein unmittelbares Überleben abhängig ist. So ist es auch bei Rebecca, die ihre Mutter nicht nur hasst, sondern auch liebt. Dazu kommt, dass NarzisstInnen oft sehr charmant sind, eine starke Anziehungskraft besitzen, und ihren Charme geschickt und manipulativ zu ihren Vorteilen zu nützen wissen.
Auf der grossen Bühne der Weltpolitik schaffen es grandiose Narzissten nicht nur durch Propaganda, «ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten». Das Zusammenspiel zwischen einem narzisstischen Landesführer und dem Volk, das er regiert, ist viel komplexer. Landesführer mit grandiosem Narzissmus sind oft eine hervorragende Projektionsfläche für kindliche Wünsche nach Schutz, Sicherheit, Versorgung und Ordnung. Solche regressiven Wünsche flackern bei Erwachsenen wieder auf, wenn diese mit einer hochkomplexen, verwirrenden und widersprüchlichen Realität überfordert sind. Man sehnt sich dann nach strengen, konsequenten Elternfiguren, die wissen, wo es lang geht und die einen durchs Leben führen können. Natürlich ist man ihnen gegenüber auch ambivalent, vor allem, wenn sie grausam, sadistisch und erbarmungslos sind, aber man verzeiht ihnen alles, denn auch die schlimmsten Eltern sind besser als gar keine, wenn es ums Überleben geht. Gewalttätige Machthaber können genauso geliebt und gehasst sein wie gewalttätige Eltern auch. Dieses Muster ist häufig bei Völkern zu treffen, die Jahrhunderte lang in Unfreiheit, Unterdrückung, Angst und masochistischer Unterwerfung gelebt haben. In solchen meistens vom Patriarchat total vereinnahmten Gesellschaften werden unter diesen Umständen grandios narzisstische Landesführer zu einer Art projektiven elterlichen (vor allem väterlichen) Autoritätsfiguren, die sowohl protektiv als auch repressiv, gleichzeitig haltbietend und sanktionierend agieren. Denen unterwerfen sich dann gehorsam ganze Völker, indem die Menschen zu den narzisstischen Machthabern mit der gleichen lähmenden Ambivalenz aufschauen, die sie aus ihrer Kindheit kennen.
Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband «Unerwartet» vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014), «Nicht mehr» (2016) und «Entscheidung» (2020).
Lyrik von Evelina Jecker Lambreva aus ihrem Band «Niemandes Spiegel, Chora Verlag 2015
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