Dorothee Elmiger erzählt ganz eigen, mit Sicherheit nicht von Anfang bis Ende. „Aus der Zuckerfabrik“ ist eine eigentliche Erzähllandschaft, das Experimentierfeld der Schriftstellerin, eine verschlungene Reise mit unbestimmtem Ziel. Wer sich mit der Autorin auf den Weg macht, muss aushalten können, dass nicht einmal sie selbst ihrer Sache sicher zu sein scheint.
Zugegeben, es war Auseinandersetzung! Auseinandersetzung mit dem Buch, den Stoffen, den Themen, der Erzählweise, den Zeitsprüngen. Als sässe man in einem überfüllten Zug, in dem in jedem Abteil eine Geschichte erzählt wird und man von Abteil zu Abteil huscht, nie sicher, ob man das Entscheidende versäumt hat, während draussen vor dem Fenster die Landschaft vorbeirast. Es passiert und die Gleichzeitigkeit der Dinge verwirrt in höchstem Masse. Nicht weil die Autorin der Ordnung wiedersagt, sondern weil „Aus der Zuckerfabrik“ ein Forschungsbericht ist, nicht das Resultat einer Forschung.
Sonst sind Romane Endprodukte, denen Recherche vorausging. „Aus der Zuckerfabrik“ ist eine Werkschau, ein Recherchebericht. Wer nur einfach eine Geschichte erzählt bekommen will, ist bei Dorothee Elmiger an die Falsche geraten. Auch wenn sich Dorothee Elmiger Geschichten annähert. So wie jener des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger und seiner Patientin Ellen West vor hundert Jahren, einer Frau, die „dauernd ans Essen dachte“ und jung durch Suizid starb. Oder jener des Lottomillionärs Werner Bruni, dessen Gewinn sich irgendwann verflüchtigte und man sein letztes Hab und Gut bei einer Versteigerung zur Schuldentilgung verhökerte. Eines Mannes, der zum Lottokönig wurde und dabei kein Glück fand.
Alles ist mit allem verbunden, über und durch die Zeiten. So wie Zucker den Hunger nie zu stillen vermag, höchstens kurzfristig. Sie alle haben Hunger. Hunger nach Liebe, nach Anerkennung, nach Erfüllung, nach dem Gefühl des satten Zufriedenseins. Dorothee Elmiger spürt dem nach, diesem Hunger. „Je mehr ich zu wissen meine über diese Geschichte, desto zahlreicher die Unstimmigkeiten, Abweichungen…“ Und weil dieses Nachspüren und Nachforschen nicht zwingend in der Klarheit enden muss, weil Dorothee Elmiger an keinem Resultat interessiert zu sein scheint, bleibt das Buch das Experiment selbst. Sprachlich glasklar, inhaltlich mit voller Absicht verunsichernd.
So wie die Geschichte des Zuckers eine Geschichte der Abhängigkeiten, der Sklaverei ist, so kostet und misst die Schriftstellerin den Zuckergehalt des Lebens, sei es im Leben einer jungen Haitianerin im Wunsch sich ganz und vollkommen hinzugeben oder im Leben eines Lottomillionärs, den die Boulevardpresse lüstern in seinem Untergang begleitet.
„Ob man mir bis hierher noch folgen oder dies alles als Protokoll eines Wahns, als Material für eine Fallstudie lesen wird…“ Dorothee Elmigers literarisches Experiment „Aus der Zuckerfabrik“ ist sprachlich bestechend, als Unterhaltung eine «Zumutung». Ich habe grosse Teile des Buches laut gelesen, las mich über lange Passagen in einen wahren Rausch, fasziniert von Sätzen, Bögen und Konstruktionen. Aber so sehr die Lektüre in der Kleinheit verzückt, lässt sie einem in ihrer Gänze allein.
Lauter Menschen, deren Hunger nicht zu stillen war. Mein Hunger ist geblieben. Literatur soll nicht stillen. „Aus der Zuckerfabrik“ tut es ganz und gar nicht.
Dorothee Elmiger schrieb ein Buch, das in keine Kategorie passt, sich nicht einordnen lässt. Sie entzieht und verweigert sich jeder Kategorisierung, schert sich einen Deut um Konventionen, darum, was Literatur soll und muss. Das ist mutig. Ihr Schreiben dreht sich in die Tiefe, nicht in die Breite. Ihr Schreiben ist kein Fluss, sondern ein Absinken, manchmal sogar ein Absacken in Tiefen, die mich verwirren. Und Dorothee Elmiger will schon gar nicht unterhalten. Der Genuss dieses Buches liegt in seiner Sperrigkeit ebenso wie in seiner Eleganz. Sperrig, weil es sich den gewohnten Leseerfahrungen entzieht. Elegant, weil die Sprache etwas Berauschendes hat. Sie macht mich trunken.
Bildende Kunst darf verunsichern. Man nimmt beim «Lesen» dieser Kunst Unklarheiten, Schatten, Provokation und ein gewisses Mass an Unverständnis in Kauf, will das gar so. Ebenso bei der Musik. Warum muss bei Literatur immer alles glasklar sein?
Als ich als Buchpreisbegleiter ganz zu Beginn gefragt wurde: «Was wünschst du dir für den Schweizer Buchpreis 2020?», antwortete ich: «Mut!» Verleiht die Jury den Buchpreis an Dorothee Elmiger für «Aus der Zuckerfabrik», dann ist das Mut.
Dorothee Elmiger, geboren 1985, lebt und arbeitet in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman «Einladung an die Waghalsigen», 2014 folgte der Roman «Schlafgänger» (beide DuMont Buchverlag). Ihre Texte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Dorothee Elmiger wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosadebüt, dem Rauriser Literaturpreis, einem Werkjahr der Stadt Zürich, dem Erich Fried-Preis und einem Schweizer Literaturpreis.