Liebesgeschichten und „ernsthafte Literatur“ scheinen sich fast auszuschliessen. Die Gefahr, in Kitsch und Sentimentalität zu kippen, ist gross. Die Vergleichswerte an den ganz grossen Liebesgeschichten der Weltliteratur sind hoch gesteckt. Daniel Gräfe hat es gewagt – und gewonnen. Auch wenn in seinem Debüt der Bogen bis an die Grenzen gespannt ist, überzeugt sein Roman mit viel Intimität, grossen Gefühlen, reichen Bildern und überraschenden Sätzen. Auf jeden Fall ein Gewinn!
Zwischen der deutschen und der rumänischen Grenze liegen nicht einmal tausend Kilometer. Und trotzdem sind es Welten. Beide Länder kauen bis in die Gegenwart am Erbe einer menschenverachtenden Diktatur, auch wenn zwischen dem Suizid Hitlers und der Erschiessung Ceaușescus fast ein halbes Jahrhundert liegt. Während die Schatten des Dritten Reiches immer matter werden und man in Deutschland unter einem kollektiven Vergessen leidet, sind viele der rumänischen Schergen von damals noch immer da.
Luba hat es in ihrem rumänischen Dorf nicht mehr ausgehalten, nicht zuhause, nicht in der Schule, schon gar nicht in ihrer gesellschaftlichen Isolation. Im Streit, verraten und enttäuscht verlässt sie Rumänien, mit wenig Gepäck Richtung Deutschland, in der Hoffnung ihr Studium an der Hochschule der Bildenden Künste abschliessen zu können. Aber Geldsorgen zwingen die junge Frau, ihr Studium aufzugeben. Luba streunt durch Berlin, immer auf der Kippe zwischen Sehnsüchten und Hoffnungslosigkeit. Aber der Sommer 2007 soll eine Wende in ihrem Leben bringen. Auch im Leben von Lukas, einem erfolglosen Schreiberling, der sich mehr schlecht als recht in einer Werbeagentur über Wasser hält.
„Sie nickt. Schüttelt den Kopf, schaut aus dem Fenster, doch ihre Pupillen bewegen sich nicht.“
In eben diesem Sommer rettet Lukas Luba durch unerklärliche Entschlossenheit und Mut, der sonst so gar nicht seine Sache ist. Die beiden, eine Schicksalsgemeinschaft Gestrandeter, verbringen einen Sommer der zaghaften Annäherung. Vor allem Luba ist eine Gezeichnete. Was sie in Rumänien erleben musste, will sie um jeden Preis hinter sich lassen, irgendwann nach Italien ziehen, ins Land ihrer Sehnsüchte. Lukas verliebt sich in die fahrige junge Frau. Luba hat, was ihm fehlt; Entschlossenheit und Kompromislosigkeit. Er dümpelt in einem Leben, das nicht in die Gänge kommt und Luba weckt in ihm, was beinahe erloschen wäre.
Aber trotz aller Leidenschaft und Liebe scheitert, was so wundersam begonnen hatte. Sie will weg, weiter, dorthin, wo all ihre Träume in Erfüllung gehen sollen, er traut sich nicht, den Anker aus dem Schlamm zu ziehen. Sie trennen sich, auch wenn die Liebe nicht erloschen ist. Sie reist ab nach Italien, er bleibt.
„Ich möchte , dass mein Leben kein Missverständis war.“
Jahre später meldet sie sich wieder, ernüchtert, ohne Geld und Aussichten, gestrandet bei einer Freundin. Und weil alle Stricke gerissen sind, reisst Luba zurück in ein Land, dass sie nie mehr betreten wollte. Lukas zu allem entschlossen mit seinem alten Fiesta macht sich auf den abenteuerlichen Weg auf die Suche nach einer Verlorenen. Ein Roadtripp durch die rumänische Pampas, mitten in ein Leben, das von seinem Alltag ebenso weit entfernt ist wie der leidenschaftliche Sommer damals mit Luba.
Kometen kreisen in ganz eigenen Bahnen, scheinen nicht den üblichen Gesetzen zu folgen. Und trotzdem sieht man von ihnen nur den Schweif, das, was sie hinter sich herziehen. Daniel Gräfes Debüt „Wir waren Kometen“ ist mit erstaunlicher Leichtigkeit geschrieben, unverkrampft und erfrischend. Ein vielschichtiger Roman über zwei Leben, die die Gravitation ihrer Vergangenheit auseinandereisst, über Verwundungen, die nie wirklich vernarbten.
Interview
Rumänien und seine Geschichte spielen in ihrem Buch eine zentrale Rolle. Was verbindet sie mit diesem Land.
Reisen. Menschen, die ich kennengelernt habe, manche, die mir zu Freund*innen wurden. Eine Liebesbeziehung. Ich mag die Kontraste, das Brüchige und Unfertige des Landes, in das man sich sprichwörtlich noch selbst einschreiben kann. Ich mag den Witz und die Bodenständigkeit vieler Menschen.
Luba und Lukas tragen in ihren Namen zwar die ersten beiden Buchstaben gemeinsam, aber sonst trennen die beiden Welten. Eine der Gemeinsamkeiten, die sie aber doch verbindet, wenn auch zuerst verborgen, sind ihre Verwundungen. Eigentlich ist ihr Roman nicht zuletzt die Aufmunterung, in einer Liebe mit wirklich offenen Karten zu spielen, sich ganz zu öffnen, weil die dünne Haut dieser Vernarbungen doch irgendwann reissen kann.
Zu lieben heisst für mich auch, sich in seiner Verletzbarkeit und Imperfektion zu zeigen und den anderen so liebevoll zu sehen. Sich selbst so anzunehmen und lieben zu lernen, ist die Voraussetzung dafür. Wäre das bei Luba und Lukas bereits so, wäre es für den Roman völlig langweilig. Deshalb verbergen Lukas und Luba nicht nur ihre Verwundungen, sondern kommen selbst nicht mit ihnen zurecht. Dafür projizieren sie, als sie sich ineinander verlieben, ihre Sehnsüchte und Wünsche auf den anderen. Diese liebevoll-brutale Vereinnahmung muss natürlich scheitern. So gebe ich ihnen zwei Drittel des Romans Zeit, selbst ihren Weg zu suchen und den anderen in einem zweiten Anlauf verstehen und kennenzulernen. Ein Prozess, der nie zu Ende ist, aber der richtige Anfang. Ich mag, dass die beiden sich in einem zweiten Anlauf zu finden suchen. Der Roman beginnt dort, wo das Happy End gemeinhin endet.
Luba und Lukas sind nicht dort, wo sie sein wollen. Auch am Schluss des Romans sind sie es nicht. Sie sind noch immer in einem Dazwischen. Zwischen Traum und Realität klafft allzu oft ein tiefer Graben. Luba möchte zeichnen, Lukas schreiben. Beiden droht die Realität, den Traum zu zerstören. Warum ist das ewige Hinterherrennen ebenso zerstörerisch wie der nie gewagte Versuch?
Träume tragen immer auch etwas Radikales in sich – zum Beispiel das Versprechen, eine Version seiner selbst zu sein, die man selbst gestalten darf. Das ist nichts, das man in Gleichmut betrachtet: Man will es unbedingt schaffen oder zaudert ob der Grösse der Aufgabe. Beides bringt einen nicht in den Fluss und Flow, den der Traum in der Realität benötigt. Es braucht die kleinen, konkreten Schritte, die Gelassenheit – aber das ist nur meine Sicht darauf.
Im ersten Teil ist Berlin der Schauplatz, ein flirrender Sommer 2007, im zweiten Teil ein abenteuerlicher Roadtripp durch Rumänien und im letzten ein Finale in der Wildnis des Donaudeltas. Dazwischen immer wieder Rückblenden in die Leben der beiden Protagonisten und Auszüge aus Lubas Tagebuch. Wann wird im Schreibprozess klar, wie der Roman gebaut sein muss?
Beim Schreiben muss ich den Moment spüren, warum ausgerechnet dieses Buch auf diese Weise geschrieben werden muss. Ein gutes Zeichen ist, wenn ich mich der Figur und ihrer Besonderheit ganz nah fühle, und wenn ich so konkret zu schreiben beginne, dass im Kleinen ein Metathema auf leichte Art mitschwingt. Wenn das stimmt, kann ich den Roman bauen – und das auf unterschiedliche Weisen. Bei „Wir waren Kometen“ war mir wichtig, dass der Bau Imaginationsräume für die Leser*innen schafft, die sie selbst erkunden müssen, der Roman aber auch spannend bleibt. Ich habe aber auch gemerkt, dass ich meiner zweiten Hauptfigur Luba noch mehr Platz einräumen muss und lasse sie deshalb zeichnen, Tagebücher und Mails schreiben, dass man sie ungefiltert sieht.
Ist „Wir waren Kometen» ein Komet im Leben Daniel Gräfe?
Der Roman ist ein sehr wichtiges Buch für mich, weil auch viele eigene Erfahrungen darin stecken und Themen wie Reisen, Ost-West, Kulturaustausch oder der Culture Clash in der Liebe auch meine eigenes sind. Und natürlich ist er ein dicker Brocken, weil ich einen halben Roman aus ihm herausgeschrieben habe, um ihn trotz der Vielschichtigkeit einfach zu halten, und es bis zur Veröffentlichung so lange dauerte. Aber gerade deshalb hoffe ich, dass sich „Wir waren Kometen“ auch in zehn Jahren noch gut lesen lässt und damit in der Umlaufbahn bleibt.
Was mich sehr beeindruckte, waren die kleinen Geschichten in der grossen Geschichte. Manchmal auch bloss einzelne Szenen oder Sätze. Sind Sie im Schreiben ein Sammler oder ein Jäger?
Jäger wissen, was sie jagen und erlegen wollen, das scheint mir zum Schreiben nicht zu passen, so ein Buch wäre vorhersehbar und die Spannung nur behauptet. Ich bin vor allem ein Beobachter, der Eindrücke sammelt, Dinge erst einmal für sich stehen und gelten lässt. Und ich bin ein Empfindender, der Beziehungen herstellt, die eigenen Erfahrungen verknüpft und hinterfragt, sich abermals herantastet, im besten Fall auszusetzen sucht, dass mir der Schreibprozess auch persönlich mehr abverlangt, als ich anfangs zu geben bereit bin. Erst dann würde ich es schreiben nennen.
Daniel Gräfe, geb. 1971 in Biberach, arbeitete in sozialen Projekten in den USA und Ägypten und bereiste nach dem Studium in London recherchierend und schreibend Afrika, Asien und den Nahen Osten. Er arbeitete als Kultur- und Wirtschaftsredakteur in Ost und West und ist Reporter der Stuttgarter Zeitung. Seine Erzählungen, Reportagen und Lyrik wurden mehrfach ausgezeichnet.
Beitragsbild © Dominique Brewing