Béatrice Bader «Die Lücke» – Die Lücke 6/7

Auch in diesem Jahr schneit es nicht. Eigentlich schneit es an Weihnachten schon lange nicht mehr. Der fehlende Schnee hinterlässt im Reigen der Jahreszeiten eine nebelgraue Lücke.

Mery lebt im Haus ihrer Grosstante. Es liegt etwas ausserhalb am Rand des Dorfes. Das grosse Fenster des einen Zimmers blickt wie ein wachsames Auge auf eine weite Wiese. Da, wo in der wärmeren Jahreszeit die Kühe weiden, ducken sich jetzt die Büsche in den Nebel, als hätten sie etwas zu verbergen.

Drei Jahre ist es her, da Merys Grosstante gestorben ist. Unter ihrer Hinterlassenschaft befinden sich ein Kamm und ein Handspiegel. Der Kamm ist aus Elfenbein, eine der groben Zinken ist herausgebrochen.

Mery ist nicht mehr jung, schon seit mehreren Jahren nicht mehr. Ihr langes silberweisses Haar gleicht dem fahlen Schein des Mondlichts. Seit drei Jahren kämmt sie es jeden Abend und jeden Morgen mit dem Kamm ihrer Grosstante. In der Lücke, da wo ein Zacken fehlt, bleiben jedes Mal ein paar Haare hängen. Sie sammelt die hängengebliebenen Haarsträhnen in einer alten Hutschachtel, indem sie sie zu kleinen haarigen Objekten formt, die sie von Zeit zu Zeit auf einem weissen Leinentuch auslegt. Die Haarobjekte liegen vor ihr wie kleine Wesen, wie stumme Zeugen längst vergangener Tage. Zusammengehalten aus Geschichtenfäden, bestehend aus ihren langen weissen Haaren.

An drei von fünf Tagen arbeitet Mery in einer Kaninchenzucht. Ihre Aufgabe ist es, die gereinigten und getrockneten Felle der gehäuteten Tiere zu einem Stoffkaninchen zusammenzunähen und mit einer besonderen Watte zu füllen, so dass weiche Kuscheltiere daraus entstehen, welche sie an den anderen zwei Tagen der Woche auf dem Markt verkaufen muss. 

Zu ihren Aufgaben gehört es nicht, den fertigen Stofftieren die Augen anzunähen. Das ist Mery recht, so können die Tiere sie nicht sehen und sie braucht ihnen nicht zu erklären, weshalb sie ausgestopft auf ihrem Schoss sitzen, anstatt lustig und voller Leben im grünen Gras herumzuhoppeln.  

Mery kennt es von ihrer Mutter, nicht gesehen zu werden: Klein-Mery blieb die meiste Zeit allein und ungesehen; für die Mutter unsichtbar, so sehr sie sich auch bemühte. Vielleicht bin ich unsichtbar, fragte sie sich. Nur in besonderen Situationen, zum Beispiel wenn Klein-Mery krank oder beim Spielen hingefallen war, wurde sie für die Mutter für kurze Zeit sichtbar durch ihr Weinen.

Die Mutter ärgerte sich dann jeweils darüber, dass ihre Tochter ihr so viel Aufmerksamkeit abverlangte und flüchtete in die Stadt, wo sie sich schöne Kleider in den Schaufenstern teurer Boutiquen anschaute. Manchmal betrat sie den Laden auch, liess sich von der Verkäuferin einen kostbaren Pelzmantel oder ein unerschwingliches Seidentaftkleid zeigen, die sie dann anprobierte und sich vor dem Spiegel drehte. Sie hatte immer noch eine gute Figur, vielleicht war sie insgesamt etwas klein geraten, aber mit hohen Schuhen liess sich dieser Makel schnell beheben. Die Mutter stellte sich vor, sie sei eine wohlhabende und angesehene Kundin der besten Geschäfte der Stadt, und nicht, wie in Wirklichkeit, deren Schneiderin. 

Mery kann die Lücke, die das Fehlen der Mutter bei ihr hinterlassen hat, bis heute nicht schliessen. Ihre Arbeit in der Kaninchenzucht hilft ihr dabei, diese Leere zu verscheuchen. Sie stellt sich vor, wie andere Mütter ihre Kinder mit einem der Fellkaninchen überraschen und dafür mit deren leuchtenden Augen belohnt werden. 

Jetzt, in der kalten Jahreszeit, wo die Dunkelheit so dicht ist, als hätte jemand schwarze Tücher vor die Fenster gehängt, bastelt Mery abends eifrig kleine, kuschelige Bauten aus biegsamem Hasendraht für die augenlosen Fellkaninchen.

Weil der Schnee ausbleibt, kann sie auf ihren ausgedehnten sonntäglichen Spaziergängen schöne Blätter, feine Zweige und weiches Moos sammeln; damit polstert sie jeden Bau weich und dekorativ aus. Beim Bauern steckt sie eine Handvoll Heu oder Stroh in ihre Tasche, die Halme flechtet und webt sie kunstvoll in die Lücken des Hasendrahtes, den sie zuvor in die richtige Form gebogen hat. Zum Glück ist in der Kaninchenzucht noch niemandem aufgefallen, dass hin und wieder ein Stück des Maschendrahtes verschwindet. 

Sie besitzt mittlerweile eine beachtliche Anzahl dieser schön geschmückten Kaninchennester. Keines gleicht dem anderen, jedes ist eine Augenweide. Mery bestaunt sie voller Stolz. 

Das nächste Mal, denkt sie, wenn ich mit meinem Stand auf dem Markt bin, will ich ein paar davon mitnehmen und sie zu jedem verkauften Stoffkaninchen als Geschenk dazugeben, es ist ja bald Weihnachten. 

Was niemand weiss: in jedem Nest hat Mery eines ihrer weissen Haarwesen versteckt. 

Béatrice Bader ist Schweizer visuelle Kunstschaffende und Autorin, deren Werk sich konsequent an der Schnittstelle von bildender Kunst und literarischem Erzählen bewegt. Ihr Schaffen verbindet künstlerische Forschung, Konzeptkunst und Sprache zu stillen Dialogen zwischen Bild und Wort. 2025 erschien ihr Debüt «Imelda und die blaue Feder» im Neptun Verlag – eine feinsinnige Erzählung über Fundstücke und Vergänglichkeit. Sie lebt und arbeitet in Nennigkofen, Schweiz.

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