Vielleicht ist der wichtigste auf dem Schiff nicht der Kapitän, vielleicht nicht einmal der Arzt oder die Ärztin im Krankenhaus. Es gibt sie, die Menschen innerhalb eines Systems, ohne die nicht viel geht, die den Puls oder die Richtung geben. Die es mehr als nur braucht, ohne die das Schiff zu schlingern beginnt, dem grossen Haus die Seele genommen wird.
So wie mit Herrn Anselm in der Schule weit hinten in einem Tal in den Bündner Bergen. Man hat nicht ihm gekündigt, sondern der ganzen Schule. Die Oberen wollen sie nicht mehr, lösen den Schulstandort auf, aus was für Gründen auch immer. Zu kostspielig gemessen an der Anzahl Kinder, nicht wirtschaftlich angesichts der Investitionen, die getätigt werden müssten, sinkende Kinderzahlen, was auch immer.
Was Herrn Anselm wurmt, dass man ihn nicht tun lässt, was er seit Jahrzehnten zu aller Zufriedenheit macht. Wenigstens bis zu seiner Pensionierung. Vor allem jetzt, seit dem Tod seiner Frau, der all die Kraft nichts nützte und von einer Krankheit dahingerafft wurde, viel zu früh, trotz all der Gegenwehr.
Herr Anselm besucht sie nach der Arbeit auf dem Friedhof bei der Kirche im Dorf, besucht das Grab. Redet mit ihr, wie er es immer tat, tränkt die frischen Blumen vor dem Stein, bleibt stehen und lässt in seinem stillen Monolog den Blick über Dorf und Tal schweifen.
Herr Anselm ist nicht der Lehrer, sondern der Hauswart. Mehr als nur Putzdienst, denn wenn eine der Lehrpersonen krank ist und sich auf die Schnelle kein Ersatz auftreiben lässt, übernimmt Herr Anselm auch einmal im Schulzimmer das Szepter, wenn auch auf seine Art. Dann kann es sein, dass ein Penaltyschiessen darüber entscheidet, ob es Hausaufgaben gibt oder nicht. Herr Anselm kann den Kindern die Welt genauso gut erklären wie die Studierten, aber eben mit seinem Dirigentenstab, auch wenn dieser ein langer ist, sein Besen.
Er erzählt seiner Frau von den Kindern in der Schule; den Aufgeweckten, den Schlingeln, den Faulen und denen, die vor den Prüfungen Angst haben. Aber auch von den Oberen, den Politikern, den Beamten, denen er nicht viel Vertrauen schenkt, denen es ja nur durch Schläue und Ränke gelingen konnte, so weit hinauf in der Hierarchie zu klettern. Darüber, dass die Kinder in der Schule vor allem das eine lernen müssen, das Scheitern. Um nachher wieder aufstehen zu können, sich nicht durch Misserfolg entmutigen zu lassen. So wie das Lernen eine Kunst sei, sei dies auch das Scheitern. Dass der grosse Bschiss wie ein Bumerang eines Tages zurückkomme, sich Fleiss und Rechtschaffenheit lohne. Dass man sich seiner Schwächen bewusst sein müsse, um zu wissen, wo die Stärken sind.
Arno Camenisch erfindet seine Welt nicht neu. Im Gegenteil. Er fügt ihr mit jedem Buch nach seiner Kunst ein Zimmer hinzu, fing beim Bahnhof an, beim letzten Buch war es der Skilift und nun das Schulhaus und der Friedhof. Arno Camenisch hat mit seinem Erzählsound eine Nische gefunden, die ihm keine(r) streitig machen kann, kultiviert eine Art des Erzählens, die ganz allein die seine ist. Es ist wohl auch kein Zufall, dass auf dem Cover des neuen Büchleins der Begriff Erzählung oder Roman fehlt. „Herr Anselm“ ist wohl mehr so etwas wie das Textbuch seiner neuen Performance. Wer den Sound seiner Stimme kennt, dem klingt beim Lesen dies mit. Man sieht ihn auf der Bühne oder wo auch immer und weiss, dass es funktionieren wird, diese Mischung aus Schnoddrigkeit, Witz und Freude an den kleinen Menschen und Dingen. Sein Erzählen ist ein durchorchestrierter Auftritt, der in seiner Erscheinung als urchiger Bergler in den Kleidern eines Städters, bis in den atemlosen Sprechfluss seines Erzählers passt. Das gefällt oder gefällt gar nicht. Ich gönne Arno Camenisch seinen Erfolg, seine Spezialität, dass es, wo auch immer, in der Schweiz die Säle füllt. Vielleicht steckt hinter seinem Erfolg genau diese Bewunderung für die kleine Nische, die er hell zu Leuchten bringt.
Ich freue mich vor allem für den Verlag und seinen Verleger Urs Engeler, der unermüdlich fast im Alleingang Bücher macht und mit seinem Flaggschiff Arno Camenisch nicht gänzlich in den Untiefen des immer schwieriger werdenden Verlagsgeschäft untergeht.
Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa im Kanton Graubünden geboren und aufgewachsen, studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, wo er heute auch lebt. 2009 erschien im Engeler-Verlag der Roman Sez Ner, 2010 Hinter dem Bahnhof, 2012 Ustrinkata, 2013 Fred und Franz, 2013 Las flurs dil di, 2014 Nächster Halt Verlangen, 2015 Die Kur, 2016 Die Launen des Tages, 2018 Der letzte Schnee, 2019 Herr Anselm. Publikationen im “Harper’s Magazine” (New York) und in “Best European Fiction” (USA). Seine Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt und seine Lesungen führten ihn quer durch die Welt, von Hongkong über Moskau und Buenos Aires bis nach New York.
Beitragsbild © Sandra Kottonau