Alina Bronsky erzählt mit einer Leichtigkeit, die ihresgleichen sucht. Der Roman über eine russische Flüchtlings- und Patchworkfamilie in Deutschland sprüht vor Leidenschaft in alle erdenklichen Richtungen, verbindet Witz und Schalk mit hintergründigen Zwischenmenschlichkeiten.
Der kleine Max kommt mit seinen Grosseltern als Kontingentflüchtling in einer deutschen Kleinstadt an. Er lebt zusammen mit ihnen auf engstem Raum in einem ehemaligen Hotel und kommt nur zaghaft in Kontakt mit der neuen Welt, weil die Grossmutter den scheinbar kränklichen Enkel vor allem Unbill, sei er auch noch so an den Haaren herbeigezogen, schützen will. Grossmutter ist überzeugt, dass der kleine Wurm vor der Welt geschützt werden muss, damit er sich an ihr nicht verätzt, verbrennt, verliert und verwundet. Selbst der Grossvater hat das Aufbegehren längst eingestellt, verliert, wenn er zuhause ist, kaum ein Wort, weiss, dass er gegen die Allmacht und das Allwissen seiner dominanten Frau nichts auszurichten hat, zumindest in den vier Wänden des engen Zuhauses.
In der gleichen Siedlung, auf Sichtweite, zieht Nina ein, auch aus Russland, zusammen mit ihrer Tochter Vera, die gleich alt wie Mäxchen ist, nur eben nicht missraten, kein kleiner Scheisser, kein Schrumpfkopf oder Krüppel. Grossvater steht am Fenster und schaut, für seine Frau ein Indiz, dass auch ihr Mann dem Wahn im fremden Land verfallen ist. Er bleibt immer öfter fern. Zum einen, weil er es ist, der eine Arbeit findet, zum andern, weil er die Nächte viel lieber auswärts bei der zarten Frau in der Nachbarschaft verbringt. Maxens Grossmutter nimmt es hin, so wie sie es überhaupt versteht, die Welt nach ihrem Gutdünken zu interpretieren oder gar zu drehen. Sie weiss, wie alles funktioniert, niemand macht ihr etwas vor, schon gar nicht der nichtsnutzige Enkel, den sie an jedem Tag seines kurzen Lebens vom Tod errettet hat.
Selbst als Nina schwanger wird und ein Kind zur Welt bringt, selbst als alles an dem kleinen Wicht die Verwandtschaft verrät, selbst als Nina mit dem Kind schwermütig in ihr enges Zuhause einzieht, selbst als Max offensichtlich genug in der Schule seine Fesseln ablegt und beweist, dass er alles andere als ein Nichtsnutz und Krüppel ist, dreht sich die Welt der Grossmutter in ihren Bahnen weiter. Sie, die stets behauptet, früher einmal eine gefeierte Tänzerin gewesen zu sein, schafft es gar, eine Tanzschule zu eröffnen, die von hoffnungsvollen Flüchtlingsfamilien, die überall Türen sehen, überrannt wird.
Alina Bronsky erzählt die Geschichte von Max, einem Jungen, der sich von der Welt ferngehalten diese zu erklären versucht. Von einer allmächtigen Grossmutter, die den kleinen Jungen nicht nur vor den Gefahren, sondern vor dem Leben überhaupt fernhält. Auch fern von den Geheimnissen in der Familie, von seiner Mutter, von der niemand etwas erzählt, von seinem Vater, der wie ein Gespenst zwischen den Zeilen flackert, von einer Schuld, von der niemand sprechen will. Max erkämpft sich einen Weg durch die Schutzwälle seiner Grossmutter, emanzipiert sich und ist schlussendlich der, der alles zusammenhält. Indirekt erzählt Alina Bronsky wohl auch viel von ihrem Ankommen in Deutschland als Kontingentflüchtling, von all den Beobachtungen an Familien, die wohl von Russland flohen, im neuen, fremden Land aber nie ankommen wollten. Und ganz nebenbei von der Sorte Eltern, die sich fast infektiös zu verbreiten scheinen: Helicopter Parents!
Ich las das Buch mit grösstem Vergnügen!
Alina Bronsky, geboren 1978 in Jekaterinburg/Russland, lebt seit Anfang der Neunzigerjahre in Deutschland. Ihr Debütroman «Scherbenpark» wurde zum Bestseller, fürs Kino verfilmt und ist inzwischen beliebte Lektüre im Deutschunterricht. Es folgten die Romane «Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche» und «Nenn mich einfach Superheld». «Baba Dunjas letzte Liebe» wurde für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert und ein grosser Publikumserfolg. Die Rechte an Alina Bronskys Romanen wurden in zwanzig Länder verkauft. Sie lebt in Berlin.
Rezension von Alina Bronskys «Baba Dunjas letzte Liebe» auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Sandra Kottonau