Der zwanzigjährige Thibaut wird auf dem Nachhauseweg von einem Sommerfest Zeuge einer Vergewaltigung. Es gelingt ihm zwar, den Peiniger in die Flucht zu schlagen, nicht aber die Frau rechtzeitig vor der Katastrophe zu schützen. Er nimmt sie mit nach Hause zu Mème, seiner aus Frankreich stammenden Grossmutter, die ihm die ganze Familie ist. Thibaut tut alles, um der mehrfach verwundeten Sophie ein Nest zu geben, verliebt sich in die junge Frau und droht an dieser Liebe zu zerbrechen.
Das Nashornvogelweibchen reisst sich in seiner Bruthöhle die Flugfedern aus, um ihr Nest auszupolstern. Flugfedern, die sie in der Brutzeit nicht braucht, weil das Männchen unermüdlich Futter und Wasser bringt, bis die Jungen flügge sind.
Während die junge Frau in seinem Bett schläft und er auf der Couch, seine Grossmutter ihr und ihnen alle Zeit lässt, in der Hoffnung, dass ihrem Enkel das gegeben wird, was ihr einst genommen wurde, wächst Nähe. Thibaut erfährt Bruchstückhaftes aus Sophies Leben. Er glaubt, dass aus den kleinen Zeichen der Zuneigung Liebe wird, dass sich Wunden schliessen können, dass Sophie im Nest bleibt, das Thibaut mit seinen Flugfedern ausstaffiert.
Aber Sophie lässt sich nicht halten, ist wie eine Katze, die sich nicht streicheln und nicht einschliessen lässt. Thibaut erfährt und erlebt, dass Sophie alles verloren hat; ein Zuhause, das Vertrauen, Liebe und die Gewissheit, dass es Alternativen gibt. Nicht erst mit dem schweren Mann auf ihr am Waldrand.
Aber auch Thibaut selbst ist einer, der Haken schlägt, nicht zuhause bei seiner Grossmutter, die ihm alles bedeutet, aber in Schule und Ausbildung. Er beginnt mit Sophie zu hoffen und ich als Leser mit ihm, dass ihm gelingt, was sich unabwendbar der Hoffnung entgegenstellt. Sophie klettert immer wieder an die Ränder ihres Nests – und fällt, von ihren Flugfedern beraubt.
Sophie verschwindet, Thibaut hofft. In jenem Moment, in dem Sophie erstmals in das feste Gefüge zwischen Grossmutter und Enkel, zwischen Mème und Thibaut, diese Schicksalsgemeinschaft eingreifen will, scheitert sie, wird zurechtgewiesen, was sie nicht erträgt und fliehen lässt.
Bis Jahre später, Thibaut ist inzwischen verheiratet, Vater einer kleinen Tochter und Psychologe in einer Klinik, ein Brief eintrifft und Sophie ihn um ein Wiedersehen bittet. Er, der sich nach dem Verschwinden Sophies mit Mühe ein neues Nest schuf, ein Nest, in dem sich alles ineinander zu fügen schien, wird durch ein paar Zeilen und eine Bitte aus dem Gleichgewicht geworfen, an den Rand seines Nests gedrängt. Er macht sich auf den Weg im Wissen darum, dass er Gefahr läuft, auch sich selbst zu verlieren.
„Flugfedern“ ist ein ungeheuer zärtliches Buch, das standhaft auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch, Trivialität und einem Übermass an Abgründen bleibt. Es erzählt von den kleinen Gesten, die mit Grösse geschildert werden. Von dürstendem Leben und nagenden Zweifeln. Ein Buch, das ich schon für die Tiefe einzelner Sätze liebe, dass Fragen stellt, die letztlich nie zu beantworten sind. Kindliche Fragen nach dem Warum und Woher. „Flugfedern“ überzeugt, weil das Gefüge zwischen Thibaut, seiner Grossmutter Mème, seiner Frau Helene und der grossen, abgetauchten Liebe Sophie nie plakativ, nie grell, nie durchsichtig, aber immer durchscheinend, geheimnisvoll und behutsam erzählt bleibt. Kann man sich ein Bild eines Lebens, seines Lebens machen? Wo beginnt Unglück, wo das Glück? Ist das Leben ein unsichtbarer Faden, dem man folgt, ohne es zu wissen?
„Liebe ist kein Gefühl. Liebe ist eine Entscheidung.“
Mein Interview mit Simone Regina Adams:
Selbst wenn man jemanden liebt, selbst dann, wenn man lange Zeit mit dieser Person verbringt, deckt sich das, was passiert nur selten mit dem, was man will. Nichts ist so unvorhersehbar wie Beziehung, erst recht Liebe. Wir fühlen uns nahe, bleiben aber trotzdem ein Leben lang, eine Liebe lang aussen vor. Das gilt für Mème, die Grossmutter ihres Protagonisten ebenso wie für ihren Enkel Thibaut, seine Frau Helene und Thibauts erste grosse Liebe Sophie. Ist „Flugfedern“ ein Buch über ungestillte Sehnsucht?
Ja, es ist auch die Geschichte ungestillter Sehnsucht, die natürlich vor allem Thibaut ein Leben lang antreibt, wie Sie ganz richtig bemerken. Es geht aber auch um das Bild, das wir uns vom anderen machen – und darum, was Max Frisch in seinen Tagebüchern so wunderbar formuliert hat, nämlich dass wir «gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei.“ An anderer Stelle schreibt er: «Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben.“ So ergeht es auch Thibaut, er wird mit Sophie nicht fertig, weil er sie gerne begreifen würde und es nicht kann. Das Bild, das er sich von ihr macht, ist nie hinreichend.
So gross die Gefühle, so gross die Liebe, so gross die Angst eine solche wieder zu verlieren. Thibaut leidet schon als Kind unter „verlorener Liebe“, daran, dass ihn die Mutter doppelt zurückliess, dass er mit seiner Grossmutter aufwuchs und zusammenlebte, die mehr als ein halbes Leben unter einer verlorenen Liebe litt. Er leidet mit der verwundeten Sophie und später an sich selbst, weil er ahnt, dass sogar seine Familie auf dem Spiel steht. Ist Liebe nur dann Liebe, solange man leidet oder zumindest das Leiden fürchtet – Leidenschaft?
Ein Leitthema der Novelle ist auch die Frage „Was ist Liebe?“. Thibauts Freund und Kollege Walther beantwortet diese Frage ja einmal sehr schlicht: „Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Entscheidung.“ Das klingt nun wenig romantisch oder leidenschaftlich, ich denke aber, er meint, dass zur Liebe die bewusste Hinwendung zum anderen gehört, die Bereitschaft, wie Frisch sagt, auf die immer neuen Verwandlungen des anderen einzugehen, sich auf «das Geheimnis, das erregende Rätsel, das der Mensch ja immerhin ist“, einzulassen. Während es in der Leidenschaft wohl oft darum geht, die eigene Leere, den eigenen Mangel zu füllen. Vielleicht ist das auch bei Thibaut so, der schon als Kind einen großen Mangel und große Sehnsucht erlebt hat – aber das mag ich gar nicht deuten, ich bin ja nicht seine Therapeutin, sondern hier nur Autorin. Jedenfalls führt die Liebe bei ihm zu einer geradezu fatalen Opferbereitschaft, mit der er Sophie in ihrem gemeinsamen Nest zu halten versucht, das ihr jedoch bald zu eng wird.
Sie schildern die Geschehnisse aus der Sicht eines Mannes und doch nicht in der Ich-Perspektive. Die Position des Mannes, der nicht wirklich an das Wesen seiner grossen Liebe herankommt, der an ihr zu scheitern droht, die ein Mysterium bleibt. Diese Erzählposition scheint viel wichtiger, als das, was mit Sophie, dem „Gegenüber“ geschah und geschieht. Sie arbeiteten viele Jahre als Psychotherapeutin. Wie weit kann man erklären? Wie weit soll man erklären?
Es stimmt, es geht tatsächlich nur vordergründig um Sophies dramatische Geschichte und um ihre Vergewaltigung. Dieses Geschehen rückt im Verlauf der Geschichte in den Hintergrund, die Tat wird nie aufgeklärt. Es war mir wichtig, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich nicht alles im Leben auflöst und klärt. Als Therapeutin habe ich natürlich einen anderen Ansatz, Therapie soll Hilfe bieten, Heilung ermöglichen, doch als Autorin interessieren mich vor allem Fragen, nicht die Antworten. Da denke ich an Milan Kundera, der gesagt hat: „Grundlage eines Romans ist eine Fragestellung, nicht eine Feststellung.“ Diese Geschichte stellt viele Fragen: Kann ein Mensch den anderen retten? Und wenn Thibaut es versucht, tut er es für Sophie? Aus Liebe? Oder um seinem eigenen Leben ein Ziel, einen Sinn zu geben? Und wie lebt ein Paar, das auf die harmlose Partyfrage „Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“ nicht ebenso harmlos antworten kann?
Der weibliche Nashornvogel rupft sich selbst die Flugfedern zur Nestpolsterung aus. Er braucht diese während der Brut nicht, weil das Männchen unermüdlich Nahrung bringt. Erziehung im Elternhaus oder in der Schule bedeutet oft, dass Flugfedern ausgerissen werden. Der Mensch scheint nicht geschaffen, um sich zurückzunehmen. Wo sind die Grenzen zwischen Verstümmelung und Selbstbegrenzung?
Dieses Bild des Nashornvogel-Weibchens ist ja eines, das Thibaut gewählt hat, es ist eine Metapher, die für ihn bedeutsam ist, die für Sophie aber schon bald nicht mehr stimmt. Sophie hat Gewalt erlitten, sie ist aber auch eine Frau, die Thibaut durch ihr Verhalten und ihre Affären immer wieder verletzt. Eigentlich begrenzen sich beide gegenseitig. Wie sehr das klassische Familienmodell, das diese Metapher ja auch beschreibt – der Mann ist für das Einkommen und die Frau für die Brutpflege zuständig – wie sehr das heute noch gelebt wird, mögen andere beurteilen. Ich kenne tatsächlich einige Frauen, die sich selbst innerhalb einer Beziehung sehr begrenzen, und wenn sie dann alleine leben, werden die gleichen Frauen unerwartet selbständig und bekommen, wie Sophie, „Flugfedern“. Sie kann ihr Leben erst in die Hand nehmen, als Thibaut aufhört, für sie zu sorgen, als er sich endgültig von ihr trennt. Da endet auch ihre Selbstbegrenzung.
Thibaut ist nicht unbedingt ein männlicher Archetyp, weder in der Literatur noch in der „Realität“. Wie weit zeichnen Sie hier ein Idealbild an Geduld, Rücksicht, Zartheit und Verantwortungsgefühl? Das männliche Gehabe in Politik und Gesellschaft scheint sich kaum an diesen Tugenden zu messen. Liegt da Sehnsucht?
Natürlich sind das Werte, nach denen wir uns gerade in der heutigen Zeit zu Recht sehnen. Aber es ist eben auch ein Ideal, Thibaut hat nicht nur von Sophie, sondern auch von sich selbst ein Bild erschaffen, das Bild des engagierten Therapeuten, des Helfers, und er spürt, dass er sich selbst mit der Zeit darin verloren hat. Deshalb ist Walther in seiner herzlichen Ruppigkeit so wichtig für ihn, und deshalb geht es ihm bei der erneuten Begegnung mit Sophie auch um eine Begegnung mit sich selbst. Er ist, als er Sophie zum ersten Mal begegnet, ja noch furchtbar jung. Deshalb heißt es gegen Ende der Novelle:
«Er sah ihn so deutlich vor sich, diesen jungen Mann, der er damals gewesen war, und für den Sophie die Welt bedeutet hatte. Im Halbschlaf sah er ihn durchs Zimmer gehen, war versucht, ihn an der Schulter zu fassen, um ihm noch einmal ins Gesicht zu sehen, bevor er verschwand.»
Simone Regina Adams, 1967 im Saarland geboren, lebt in Freiburg im Breisgau. Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie, seit 1995 Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie war mehrfach Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg (2006-2013), Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses (2014) sowie Stipendiatin in Friedrichskoog an der Nordsee (2016). Ihr Roman «Die Halbruhigen» wurde 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.
Beitragsbild © Sandra Kottonau