Marion Poschmann «Die Winterschwimmerin», Suhrkamp

Es ist, als ob die Dichterin Marion Poschmann eine Seherin wäre. Ihre Fähigkeit, durch die Dinge zu sehen, ist bestechend. In «Die Winterschwimmerin» begegnet man einer Sprache, die in Bilder zu fassen vermag, was sonst unfassbar bleibt. Dieses schmale Buch ist ein tiefer Tauchgang in die Vielschichtigkeit des Lebens!

Vor ein paar Wintern war ich einquartiert in ein kleines Haus an einem Baggersee. Es regnete und schneite oft. Auf der anderen Seite des Sees sammelten sich immer wieder Wildgänse auf dem offenen Feld und am Ufer des kleinen Sees hartgesottene Gestalten, die sich mit offenkundiger Regelmässigkeit am Ufer trafen, um kurz und schmerzlos ins kalte Nass zu tauchen. Nur ein paar Züge lang, nachdem man die Kleider zuvor sorgfältig in eine Tasche unter einem Schirm auf einer Bank eingelagert hatte. Ich hinter der grossen Fensterfront mit Bodenheizung und einer Tasse Kaffee in der Hand. Sie dort draussen, fest entschlossen, alle Annehmlichkeiten winterlicher Zivilisation für ein paar Minuten abzustreifen. Ein Warmduscher hinter Glas, unerschrockene Winterschwimmer zwischen dünnen Eisinseln.

Grenzen verbrennen.
Grenzen, die nichts sind als Vorurteile.
Nicht mehr hier enden.

Marion Poschmann, in der deutschen Literaturszene so reich dekoriert wie kaum eine andere, schrieb eine Verslegende, kein Langgedicht, aber auch kein Märchen, keine Sage, auch wenn in ihrem Text immer wieder ein Tiger auftaucht. Vielleicht ist es die Szenerie, aber vielmehr die Sprache, die eigenartig oszilliert zwischen Bildern und Empfindungen, zwischen einer beschaulichen Erzählstimme und beinah metaphysischen Bildern. Thekla, eine literarische Figur aus dem zweiten Jahrhundert, begibt sich eines Tages in die Welten zwischen den Elementen. Zwischen Hitze und Kälte, Feuer und Wasser, genau das, was man empfindet, wenn man als Winterschwimmerin abtaucht.

Marion Poschmann «Die Winterschwimmerin», Suhrkamp, 2025, 80 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-518-43235-8

Marion Poschmann, die während der Coronazeit zur Winterschwimmerin wurde, während des Lockdowns an einem ruhigen See in aller Abgeschiedenheit. Grenzerfahrungen in einer Zeit der Grenzerfahrungen. Den inneren Tiger loslassen, während rundum alles zurückgebunden wird. Thekla will den Tiger suchen, den Tiger in sich, diese Urkraft. Auf dem Umschlag des wunderschön gestalteten Buches sieht man sie Rückenansicht einer Frau mit Streifenmuster auf der Haut. Die Verschmelzung von Frauen- und Tigerkörper, eine Darstellung aus einer mittelalterlichen Schrift aus dem Mittelalter.

Winterschwimmerinnen tauchen aber nicht einfach zu Abhärtung ins kühle Nass. Es ist das, was während des Eintauchens und danach passiert, was Endorphine auslösen und an Beseelung, Erkenntnis und inneren Bildern zurücklassen. «Die Winterschwimmerin» ist ein üppiges Sprachkunstwerk, vielfach unterlegt, das Zeugnis einer sprachlichen Erleuchtung.

Es ist so klar,
so wahr
wie dunkel. Nicht zu fassen.

Ein Vers, ein Gedicht ist ein gestreiftes Wesen, ein in Zeilen geteiltes Ganzes, das in der Realität genauso wie in den Zwischen- und Traumwelten durch unser Bewusstsein streift. Der Tiger hat sich befreit. Marion Poschmanns Tiger hat sich befreit und streift durch ihre Seelenlandschaft. «Die Winterschwimmerin», ein ungemein mutiges Buch, ist eine sprachliche Offenbarung. Anspruchsvoll, voller Anspielungen. Ein Buch, das auf der letzten Seite noch lange nicht zu Ende gelesen ist.

Marion Poschmann (1969) wurde in Essen geboren und lebt heute in Berlin. Für ihre Lyrik und Prosa wurde sie mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bremer Literaturpreis 2021 für ihren Lyrikband «Nimbus» und im selben Jahr mit dem Wortmeldungen-Literaturpreis. Zuletzt erhielt sie 2023 den Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk.

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Beitragsbild © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag