Der Supergau in jeder Familie; ein Kind stirbt. Nichts ist mehr so wie zuvor. Es gibt das Leben davor und ein Restleben danach. Daniela Krien beschreibt ein Paar, das nach dem Tod der 17jährigen Tochter feststellen muss, dass da viel mehr ist, als bloss eine Lücke, ein Verlust. Linda und Richard fallen aus ihrem Leben, aber nicht als Paar, sondern in die Einzelteile.
Linda hat sich in ein altes Haus zurückgezogen, in einem Strassenkaff unter einer Anflugschneise zu einem Flughafen, in vier Wände, in denen nichts an Sonja spiegelt, weit weg von den Menschen, die sie an sie erinnern, von den Strassen und Plätzen, auf denen sich das Leben ihrer Tochter abspielte. Linda erträgt weder sich selbst, noch ihren Mann, der so ganz anders mit der Trauer und dem Schmerz umgeht wie sie selbst. Der nach ihr blossem Aktionismus verfällt. Noch viel weniger erträgt sie die Ermahnungen ihrer Mutter, nach vorne zu schauen, sich dem Leben nicht zu verschliessen, sich zusammenzureissen, ihre Aufsässigkeit am Telefon. Aber am allerwenigsten erträgt sie sich selbst, das Treten am Ort, den Blick in den Spiegel, dass sich die Welt einfach so weiterdreht. Sie hadert mit sich, fühlt sich schuldig, ihre Tochter nicht wirklich gekannt, sie missverstanden zu haben, Erinnerungen an sie zu verlieren. Es gibt keine Normalität mehr, weder in ihrer Gefühlswelt, nicht im Blick auf das, was übrig geblieben ist.
Richard, ihr Mann, der zu Beginn noch im gemeinsamen Haus geblieben ist, besucht sie immer wieder, bringt ungefragt, was er glaubt, brauche sie, bleibt, in der Hoffnung, es würde ein Gespräch entstehen, wieder ein Miteinander. In den Tagen und Wochen nach dem Tod funktionierte man noch gemeinsam, stellte sich den Aufgaben und Pflichten, bis zusammenbrach, was nur noch als Gerippe übriggeblieben war. Mittlerweile ist da neben dem Schmerz um die Tochter ein ebenso grosser um den Verlust einer Liebe. Es scheint nichts geblieben zu sein. Nicht dass die Liebe verschwunden wäre. Aber sie hat das Gegenüber verloren. Da hilft auch sein Flehen nicht, schon gar nicht sein Bitten und Drängen.

Selbst in dem Dorf, in dem sie das Haus einer Mitpatientin bewohnt, einer Frau, die wie sie an Krebs erkrankte, aber im Gegensatz zu ihr sterben musste, begegnet man Linda mit respektvoller Distanz. Sieht, dass sich da eine Frau um Haus und Garten kümmert, sogar um den Hund und die Hühner, die von den einstigen Tieren geblieben sind. Im Haus hängen die Fotos jener Frau, eines Lebens, das nicht das ihre ist. Linda ist aus der Haut gefahren, während ihr Mann sich mit einem neuen Leben, irgendwann gar mit einer neuen Frau an seiner Seite, zurechtzufinden versucht.
Einzige Bezugsperson ist Natascha und ihre authistische Tochter. Eine Frau, die es schafft, in ihrer ganz direkten, ungeschönten Art, die Linda die Tür zur Welt doch immer wieder aufzureissen, eine Frau, die sich nicht unterkriegen lässt und alles versucht, ihrer Tochter die Mutter zu sein, die sie braucht.
Durch den Verkauf des gemeinsamen Hauses zu Geld gekommen, eröffnet sich für Linda mit einem Mal die Möglichkeit, Menschen aus der Enge zu befreien. Der selbstzerstörerische Blick auf sie selbst wird herumgerissen oder weicht zumindest auf. Obwohl der Schmerz bleibt, der Verlust noch immer nagt, beginnt Linda zaghaft ein neues Leben.
Obwohl „Mein drittes Leben“ ein Roman über Verlust ist, ist dieses Buch vor allem eine Liebesgeschichte. Die Liebesgeschichte eines Paares, aus deren Liebe eine Tochter wurde, der man die Tochter genommen hatte und das verzweifelt versucht, das Leben irgendwie zurückzugewinnen. Obwohl sich Linda in ihrem Schmerz einigelt, sind die zaghaft vorsichtigen Besuche ihres Mannes im Restleben seiner Frau etwas vom Ergreifendsten, was ich in der letzten Zeit gelesen habe. Sie schildern derart viel Zartheit, Geduld, Menschlichkeit und Trauer darüber, nicht die richtigen Worte und Gesten zu finden, dass man das Buch an solchen Stellen für einige Momente ablegen muss.
Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin. Ihre Romane «Die Liebe im Ernstfall» und «Der Brand» standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Daniela Krien hat zwei Töchter und lebt in Leipzig.
Beitragsbild: Maurice Haas © Diogenes Verlag