Ein schmaler Roman – aber alles andere als schmalbrüstig! Hansjörg Schertenleibs neuster Streich ist starke Kost, sprachlicher Hochgenuss und „herrliches“ Vergnügen. Ein dunkel irisierendes Kammerstück in einem abgelegenen Landhaus im Norden Irlands.
Eigentlich sind Feen gute, freundliche und doch mächtige Wesen. Dass Absinth, jene grün schimmernde Spirituose, „grüne Fee“ genannt wird, kann nur mit deren Wirkung in Verbindung gebracht werden, auch wenn die grüne Fee keine Wünsche, ausser ganz kurzfristige, zu erfüllen vermag. Und trotzdem passt der Titel zu Hansjörg Schertenleibs neuem Sprachkunstwerk, denn der Rausch, den eine Flasche Absinth hervorrufen kann, ist wie der Sprachrausch, in den sich Hansjörg Schertenleib geschrieben hat und in den man Seite an Seite mit ihm in die Geschichte um Freundschaft abtauchen kann – nur hier garantiert ohne schlechte Nebenwirkungen, ohne morgendlichen Kater.
Arthur Dold ist Sonderling und Einzelgänger, ohne Familie, ohne Verwandtschaft. Schon längst im Pensionsalter handelt er noch immer mit dem, womit er schon ein Leben lange sein Geld verdiente; alte Landkarten, Atlanten und Globen. Er tut es, weil es sein Leben ist, weil es nichts anderes gibt. Zu den wenigen Menschen, zu denen er in seinem Leben Freundschaft fand, zählte Christian Aplanalp, den er während ihrer gemeinsamen Schulzeit kennenlernte, den er zwar immer wieder einmal aus den Augen verlor, vor allem als er als Maler, Künstler berühmt wurde, in die Staaten zog und Stoff für Boulevardblätter lieferte. Aplanalp ist tot, schon lange, ein Jahrzehnt. Die Umstände seines Todes waren damals mysteriös und sind es geblieben, haben sich tief ins Bewusstsein Arthur Dolds eingegraben. Weil er damals dabei war. Weil sein Freund ihn damals zu seinem Sechzigsten eingeladen hatte. Weil Dold bis heute nicht weiss, was in jenen Tagen in einem abgelegenen Landhaus im irischen County Donegal passiert sein musste.
Dold erhält zehn Jahre später ein Päckchen mit einem Brief von Bernadette, Aplanalps damaliger Haushälterin. Ein Brief und ein Päckchen, das Arthur zwingt, sich noch einmal mit den Geschehnissen jener Tage, die ein Jahrzehnt zurückliegen, auseinanderzusetzen. Christian Aplanalp lebte damals schon eine Weile nicht mehr in den Staaten, hatte sich in den einsamen Norden Irland zurückgezogen, in ein Haus, das er geerbt hatte.
Arthur Dold hatte ganz unerwartet einen Brief mit einer Einladung zu Aplanalps sechzigsten Geburtstag bekommen, machte sich kurz entschlossen auf den Weg, um noch einige Autostunden entfernt vom Haus seines Freundes festzustellen, dass er nicht von Aplanalp selbst am Bahnhof erwartet wurde, sondern von einem Mann, der ihm einen Brief übergab, sich Seamus nannte und ihn mit einem Vauxhall zum Haus seines Freundes fuhr. Ein grosses Haus, das 1857 erbaut wurde, irgendwo im nirgendwo, weit ab von der nächsten Ortschaft. Arthur Dold muss feststellen, dass er der einzige Gast zum Geburtstag seines Freundes ist, eines Freundes, der ihn zuerst einmal einen Abend warten lässt und er mitten in der Nacht aus Dolds Träumen aufgewacht in aller Realität neben seinem Bett im Dunkeln sitzt.
Es treffen sich zwei. Zwei Sonderlinge. Zwei Sechzigjährige, die das Lebe zu Sonderlingen machte. Hansjörg Schertenleibs Roman erzählt jene schicksalshafte Begegnung so, als wären die beiden Protagonisten zwei erkaltete Monde, deren Gravitation sie unaufhaltsam auf eine Kollision zutreiben lässt. Zwei ergraute Männer, die sich in einem grossen Haus verlieren, das von der nicht mehr jungen Bernadette am Leben erhalten wird, deren Mutter schon in den Diensten Aplanalps Vorfahren stand. Aplanalp hat als Künstler den Faden verloren, zeichnet wohl noch mit Grafit grossvormatig, genauso düster wie die vielen geheimnisvollen Ecken, Winkel, Räume und Gänge des Hauses. Schertenleib versteht es meisterlich, eine Doyle’sche Stimmung zu erzeugen, was wohl auch den Grund gab, warum Schertenleibs Roman mit „Gespenstergeschichte“ untertitelt ist. Gespenster gibt es in jedem Leben, nicht ausgeleuchtetes Leben, das in der Gegenwart mitspielt. Schatten aus der Vergangenheit, Falltüren, die man lieber nicht mehr öffnen will. Aplanalp ist aus dem Tritt geraten. Dold so etwas wie ein Vollstrecker dessen, was Aplanalp selbst nicht ins Rollen bringt.
Es gibt AutorInnen, die eigentlich immer die gleiche Geschichte erzählen, in immer noch einer Variation. So wie Malerinnen das immer gleiche Bild aus unterschiedlicher Perspektive. Hansjörg Schertenleib fasziniert, weil er sich mit jedem neuen Roman neu positioniert, nicht in seiner Virtuosität, aber mit Themen und Stimmungen. „Die grüne Fee“ ist starker Stoff. Kann gut sein, dass man dazu oder danach einen kräftigen Schluck trinken muss.
Und ganz nebenbei: Ein wunderschön gestaltetes Buch!
Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 bei Autun im Burgund. Im Kampa Verlag sind bislang erschienen: «Die Fliegengöttin«, «Palast der Stille» und «Offene Fenster, offene Türen» sowie die Maine-Krimis «Die Hummerzange» und «Im Schatten der Flügel».
Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau