Als ich Christoph Keller vor ein Vierteljahrhundert mit seinem dritten Roman «Ich hätte das Land gerne flach» nach Winterthur in ein Restaurant zu einem meiner «Literaturzirkel» einlud, kurvte er damals schon mit seinem Rollstuhl bis zum langen Tisch in der Ecke des Gasthauses. Christoph Keller kurvt noch immer; durch sein Leben, seine Auseinandersetzung mit seiner Einschränkung, sein literarisches Schaffen, das sich stets neu erfindet, wenn auch SMA, seine Krankheit, sein Leben und sein Schreiben durchsetzt.
Christoph Keller sitzet mehr als ein halbes Leben lang im Rollstuhl. Zuerst war der Rollstuhl eine Art Rückversicherung, dann sein Begleiter, mittlerweile sein fahrbares Standbein. Christoph Keller war 14, als er die Diagnose SMA Spinale Muskelatrophie erhielt. Eine Krankheit, die in drei Typen auftritt und Christoph Keller trotz aller Einschränkungen eine „normale“ Lebenserwartung verspricht. Auch wenn der Autor zur „leichtesten“ Form von SMA verurteilt ist, SMA hört nie auf, schmerzt wohl nicht, aber hebt Muskelfunktionen auf. Aber kann man dann vom Glück von SMA Typus III sprechen. Wohl kaum und vielleicht doch. „Jeder Krüppel ist ein Superheld“ spricht genau davon.
Schon bemerkt?
Die Leute sagen nicht
mehr: sei will-
kommen. sie sagen: kein
problem.
früher waren wir
willkommen. jetzt
sind wir kein
problem.
Über Jahrzehnte pendelte Christoph Keller nicht nur geographisch zwischen zwei Welten, zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Jan Heller Levi, zwischen New York und St. Gallen, den USA und der Schweiz. Er pendelt auch zwischen Zuständen; zwischen dem allmächtigen Erfinder und Sprachschöpfer und einem Menschen, dem die Bewegungsfreiheit am allerwenigsten durch seinen Rollstuhl genommen wird. Unsere Welt ist die Welt der „Normalen“, des Normalen. Dass das Nicht Normale, das Nicht Normierte keinen oder nur wenig Platz hat, das zeigt nicht nur die Tatsache, dass es im Parlament der Schweiz nur einen einzigen Parlamentarier gibt, der vergleichbar eingeschränkt ist (Ich muss schmunzeln beim Schreiben dieses einen Satzes!). Er pendelt zwischen Kampfansage und Versöhnung. Nicht der Versöhnung mit den Widrigkeiten der Umwelt, die das Leben eines Eingeschränkten noch multipliziert, sondern der Versöhnung mit sich selbst. Christoph Keller hadert nicht, strotzt dafür vor Tatendräng, schöpferischer Kraft und laut vernehmbarer Liebe. Jener zu seiner Frau, jener zu seiner Sprache, jener zu seinem Leben.
„Jeder Krüppel ein Superheld“ ist weder Roman noch Sachbuch, keine Biographie und keine narzistische Selbstdarstellung. „Jeder Krüppel ein Superheld“, das „Krüppelbuch“, wie es der Autor selbst nennt, ist ein bunter Strauss an Texten und Bildern; Auseinandersetzungen mit sich und der Umwelt („Keines meiner Bücher hat mich so viel Kraft gekostet.“), ein „Rollgang durch sein Leben“, Begegnungen, Gedanken und Beobachtungen, Biographisches, eine „Wanzengeschichte“ über mehrere Kapitel, Gedichte, auch solche seiner Frau Jan Heller Levi und Fotografien. Fotographien von Pfützen in New York (Glunggenbilder), die eigentlich jene unüberwindbaren Zentimeter dokumentieren sollten, aber immer mehr zur Bildauseinandersetzung wurden. Fotografien, in denen sich New York in Pfützen spiegelt, jene unüberwindbaren Zentimeter gleich neben der Weite und protzigen Grösse der selbstbewussten Millionenmetropole.
Franz Kafka schrieb sich mit „Die Verwandlung“ ins kollektive Kulturbewusstsein. Gregor wird zum Käfer. Christoph Kellers Auseinandersetzung mit Kafkas Text resultiert vielleicht auch aus dem Gefühl, von Umgebung und Gesellschaft ebenfalls, wenn auch langsam, zum Käfer gemacht zu werden, einem hilflosen Etwas, das auf dem Rücken um sein Leben strampelt. „Jeder Krüppel ein Superheld“ tut bei der Lektüre dort weh, wo mir bewusst wird, mit wie viel Gedankenlosigkeit und Selbstverständlichkeit ich durch mein Leben torkle. Aber ich kann torkeln. Christoph Kellers Buch hat nichts von Wehleidigkeit, keine Spuren von Sentimentalität und schon gar nichts Voyeuristisches. Christoph Keller sprudelt, sprudelt erst recht, auch literarisch und schöpferisch, wenn in seiner Wanzengeschichte aus einem Menschenbauch nicht nur ein Kribbeln zu spüren ist, sondern Ameisen schlüpfen.
„Streif dein Kostüm über und roll, SMA-Man!“
Christoph Keller (1963) ist der Autor zahlreicher Romane und Theaterstücke und eines Essaybandes. Sein bekanntestes Werk ist der Erinnerungsroman «Der beste Tänzer» (S. Fischer Verlag, 2003). Zusammen mit Heinrich Kuhn hat er drei Romane sowie die Kürzesterzählungen «Alles Übrige ergibt sich von selbst» (Keller+Kuhn, Edition Literatur Ostschweiz, St. Gallen, 2015) veröffentlicht. 2016 erschienen der Erzählband «A Worrisome State of Bliss: Manhattan Tales and Other Metamorphoses» (Birutjatio Press, Santiniketan, Indien, 2016) sowie «Das Steinauge & Galápagos. Ein Roman und sechs Erzählungen» (Isele, Eggingen, 2016). Keller, der auf Deutsch und Englisch schreibt und über zwanzig Jahre in New York verbracht hat, lebt mit der Lyrikerin Jan Heller Levi in St. Gallen. Zuletzt erschien im Limmat Verlag der Roman «Der Boden unter den Füssen», der mit dem Alemannischen Literaturpreis 2020 ausgezeichnet wurde.
Beitragsbild @ Ayse Yavas