Meinrad Inglin «Urwang», Pro Libro Verlag

Letzthin bekam ich von einem österreichischen Verlag ein Buch als Rezensionsexemplar zugeschickt, das davon erzählt, wie einst in den schottischen Highlands ein Staudamm errichtet wurde und in der Folge ein ganzes Dorf umgesiedelt werden musste. Ein Roman darüber, was es bedeutet, aus seiner Heimat herausgerissen zu werden. Ich legte den Roman wieder weg, weil während des Lesens dauernd die Erinnerung an einen anderen Roman mit ganz ähnlichem Thema durchdrückte – und zwar so beharrlich, dass ich statt des im Herbst erscheinenden Romans, jenen aus dem Jahr 1954 wieder in die Hand nahm und zu schmökern begann.

"Urwang", erstmals 1954 beim Atlantis Verlag in Zürich erschienen
«Urwang», erstmals 1954 beim Atlantis Verlag in Zürich erschienen

Im «Urwang» einem kleinen Tal in der Innerschweiz, dem der Schriftsteller Meinrad Inglin die Geschehnisse im Wägital (Kanton Schwyz) zum Vorbild nahm, soll ein Staudamm gebaut werden. Fünf Bauernfamilien müssen von ihren Höfen ausziehen und klammern sich mit allen Mitteln an ihre über Generationen vererbte Scholle. Protagonist Aschwanden soll als Vertreter des ausführenden Unternehmens die Betroffenen dazu bringen, ihre Anwesen nicht durch zwangweises Abführen verlassen zu müssen. Ein schwieriges Unterfangen! Meinrad Inglin nimmt die Technisierung der Gesellschaft zum Thema, jenen Moment in der Geschichte, in der die Einführung der Elektrizität, die Errungenschaften der Technik für die Mehrheit der Menschen eine Erleichterung, ein Fortschritt bedeutete, für den andere aber mit Leib und Gut bezahlen mussten. Inglin vermeidet es gekonnt, verklärte Nostalgie aufkommen zu lassen. Was am Schluss des Geschehens in den Wassermassen des gefluteten Stausees untergeht, ist nicht einfach Idylle, letztes Paradies, sondern auf der Rech1923.06.16_Alt-Waeggithal_Kuehe_vor-Staumauernung der Preis für den Einzug der Moderne. Und dass diese Rechnung nicht ohne Verlierer, ohne Kampf und Leidenschaft ausgetragen wird, davon erzählt der Roman «Urwang». Inglins Roman beschreibt einen Moment der Geschichte, einen Moment, der sich immer wieder abspielt.

204864Meinrad Inglins (1893 – 1971) Kindheit war überschattet vom frühen Tod der Eltern, den Vater durch ein Unglück, als Meinrad 13 und die Mutter durch eine schwere Krankheit, als er 17 war. Schon 1909 publizierte er erste Texte in Zeitungen und 1922 seinen ersten Roman «Die Welt in Ingoldau». Meinrad Inglin nahm Stellung zu aktuellen politischen und sozialen Fragen, schrieb viel mehr als ‹Heimatliteratur›. Hauptwerk bleibt sein 1938 erschienener Roman «Schweizerspiegel», ein grosses Panorama  über die Grenzbesetzung und den Generalstreik, Themen, die vor Beginn des 2. Weltkriegs aktueller nicht sein konnten. Verfilmungen von «Der Schwarze Tanner» und «Das gefrorene Herz» von Xavier Koller oder die regelmässig aufgeführte Bühnenadaption des «Chlaus Lymbacher» von Thomas Hürlimann machen deutlich, dass das Werk von Meinrad Inglin noch heute lebendig geblieben ist und zu Entdeckungen einlädt.

imgres«Urwang» ist beim Verlag Pro Libro Luzern oder im Buchhandel erhältlich!

Webseite der Meinrad Inglin-Stiftung

PS Man stelle sich vor; Als ich zwischen 1979 und 1984 meine Lehrerausbildung in Zug machte, las unser Deutschlehrer Werner Hegglin als Vorbereitung zu eine «Konzentrationswoche» im Wägital Inglins ganzen «Urwang» der Klasse im Unterricht vor. Heute noch vorstellbar? Nein. Dabei spüre ich die Wirkung jener Vorlesestunden noch heute. Vielen Dank an «meinen» hochgeschätzten Deutschlehrer, den «Chef»!

Werner Hergglin
Werner Hergglin

Carlos Peter Reinelt «Willkommen und Abschied», Wallstein

Was der 22jährige Autor in einem schmalen Bändchen als ‹konkrete Poesie› vorlegt, geht tief unter die Haut und ist an Grausamkeit und Aktualität nicht zu überbieten, aber auch nicht wirklich zu geniessen. Da ist jemand auf der Flucht von Syrien, geflohen, nachdem der IS seinen Freud Al-Amad erwürgt hatte, auf der Flucht ins gelobte Land, vielleicht Österreich, wenn das Geld reicht Schweden. Er hat das Mittelmeer überwunden, ist den Uniformierten in der Türkei entwischt und steckt nun mit 60 anderen in der Dunkelheit eines bulgarischen Schlepperlastwagens, eingesperrt, verdreckt, im langsam verstummenden Geschrei, in Luft wie Blei.

Carlos Peter Reinelts Text ist Mahnmal, Kunstwerk und Hilfeschrei zugleich.

Für diesen Text erhielt Reinelt den Rauriser Förderungspreis 2016 zum Thema „Zeitraffer“. Aus der Begründung der Jury (Thorsten Ahrend, Christine Haidegger, Christine Riccabona): „Der Text widmet sich mutig und respektvoll dem Thema Flucht aus mörderischen Verhältnissen und macht die unmenschliche Realität des Weges nach Europa sichtbar, indem er die Leser in die entsetzliche Spannung zwischen erhoffter Rettung und auswegloser Situation in einem Schlepper-LKW hineinversetzt.“

UnknownCarlos Peter Reinelt, geboren 1994 in Lustenau/Vorarlberg. Kolumbianische Mutter, Vater aus Tirol, Gymnasium in Bregenz, Landessiege bei Mathe- und
Philosophieolympiaden, Skispringen im Leistungssportbereich, Rock- und Metalbands, politische Arbeit. Er studiert Deutsch, Philosophie und Psychologie in Salzburg.

Lesung von Carlos Peter Reinelt am 18.09.2016 um 20.00 Uhr Bregenz (A), Theater KOSMOS (Foyer), Mariahilfstrasse 29

 

Am «Literatur am Tisch» mit Bettina Spoerri hat’s noch Platz!

Unregelmässig findet an unserem grossen Esstisch «Literatur am Tisch» statt: Eine Autorin oder ein Autor wird zusammen mit seinem neusten Buch zu Tisch geladen, ebenfalls maximal 10 Gäste, die das Buch gelesen haben. Man trinkt ein Glas Wein (oder mehr), geniesst Häppchen aller Art und unterhält sich, setzt sich angeregt und manchmal auch kritisch mit dem Buch, dem Schreiben, dem Lesen und der Literatur auseinander.

Nächster Gast im Literaturport: Bettina Spoerri mit ihrem Roman «Herzvirus»
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am 17. August, um 19 Uhr, an der St. Gallerstrasse 21, 8580 Amriswil.
Eine Anmeldung ist zwingend. Diese werden in der Reihenfolge ihres Eintreffens berücksichtigt
(->Kontakt)!

Eintritt inklusive Essen und Getränke 30 Fr.

literaturblatt.ch fragt, Teil 3, Klaus Modick antwortet.

Von Klaus Modick, zuhause im norddeutschen Oldenburg, las ich erstmals 1986 einen Roman. Damals machte er in seinem dritten Roman «Das Grau der Karolinen» ein Bild und die detektivische Suche nach dessen Maler zum Thema eines Buches über das Sehen und die Farben. Seither ist aus den Büchern Klaus Modicks die Zierde eines grossen Stücks Bücherregal geworden und aus dem Autor ein «Schriftsteller meines Herzens».

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Es geht mir um gut erzählte Geschichten, und mit „gut erzählt“ meine ich eine unprätentiöse Schreibweise, die auf stilistische Effekthascherei verzichtet und zugleich Abstand zum Trivialen hält. Und dafür möchte ich, bitte sehr, geliebt werden!

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Der schönste Moment ist der Schlusspunkt eines Romans, der schwierigste das erste Wort. Furcht kenne ich nicht, aber Blockaden.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Viele Bücher, die ich im Lauf der Jahre gelesen, viel Musik, die ich gehört habe, murmeln lautlos mit.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Die Schreibenden verfügen über die so genannte Macht des Wortes, aber sie sind deshalb nicht klüger oder dümmer als andere Künstler. Als Literat hat man allerdings Verantwortung – nämlich die, gut zu schreiben.

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Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Ob mein Schreiben etwas bei meinen Lesern schärft, weiß ich nicht. Bei mir schärft es die Selbstkritik.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibender mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Ich brauche Ruhe zum Arbeiten, aber bei der Arbeit bin ich nicht einsam – siehe Antwort Nr. 3! Einsam fühle ich mich manchmal in Gesellschaft.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Hermann Kinder: Porträt eines jungen Mannes aus alter Zeit. Wunderbares Buch eines notorisch unterschätzten Autors.

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Das Große Wilhelm Busch Album
Theodor W. Adorno: Minima Moralia
Leonard Cohen: The Lyrics

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich hätte Germanistikprofessor oder Studienrat werden können, Deutsch und Geschichte. Ich hätte auch der Werbetexter bleiben können, der ich war, als es mit der Schriftstellerei ernst wurde.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Alle zwei oder drei Monate trage ich einen gut gefüllten Karton zum Antiquar.

Klaus Modick, vielen Dank!

autor_1590[1]Klaus Modick, geboren 1951, studierte in Hamburg Germanistik, Geschichte und Pädagogik, promovierte mit einer Arbeit über Lion Feuchtwanger und arbeitete danach u.a. als Lehrbeauftragter und Werbetexter. Seit 1984 ist er freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt nach zahlreichen Auslandsaufenthalten und Dozenturen wieder in seiner Geburtsstadt Oldenburg. Für sein umfangreiches Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sein Roman «Konzert ohne Dichter» erschien im Frühjahr 2015 und wurde schnell zum Bestseller.

9783462047417[1]In «Konzert ohne Dichter» erzählt Klaus Modick die Entstehungsgeschichte des berühmtesten Worpsweder Gemäldes, von einer schwierigen Künstlerfreundschaft – und von der Liebe. Heinrich Vogeler ist auf der Höhe seines Erfolgs. Im Juni 1905 wird ihm die Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft verliehen – für sein Gesamtwerk, besonders aber für das nach fünfjähriger Arbeit fertiggestellte Bild «Das Konzert oder Sommerabend auf dem Barkenhoff». Während es in der Öffentlichkeit als Meisterwerk gefeiert wird, ist es für Vogeler das Resultat eines dreifachen Scheiterns: In seiner Ehe kriselt es, sein künstlerisches Selbstbewusstsein wankt, und eine fragile Freundschaft zerbricht. Rainer Maria Rilke, der literarische Stern am Himmel der Worpsweder Künstlerkolonie, und sein Seelenverwandter Vogeler haben sich entfremdet – und das Bild bringt das zum Ausdruck: Rilkes Platz zwischen den Frauen, die er liebt, bleibt demonstrativ leer. Was die beiden zueinanderführte und später trennte, welchen Anteil die Frauen daran hatten, die Kunst, das Geld und die Politik, davon erzählt Klaus Modick auf kunstvolle Weise. Ein großartiger Künstlerroman, einfühlsam, kenntnisreich, atmosphärisch und klug.

Das war der 3. Teil einer kleinen Reihe. Am 15. August antwortet Beat Brechbühl. Seien Sie wieder dabei!