Kranke Tiere im Gehirn
Yael Inokai erzählt in ihrem neuen Roman «Ein simpler Eingriff» von Gehirnoperationen, die psychische Krankheiten heilen sollen. Dabei wirft sie die Frage auf, wo die Grenze zwischen Heilung und Normierung liegt.
Gastbeitrag von Nina Hurni
Nina Hurni studiert Deutsche Philologie und Politikwissenschaften in Basel. Ansonsten liest und schreibt sie und leitet Kreativworkshops für Jugendliche.
Es ist eine seltsame Welt, in die uns Yael Inokai in ihrem dritten Roman entführt. Sie erscheint fremd und doch der uns bekannten viel zu ähnlich, unaushaltbar altmodisch und wissenschaftlich visionär.
Ohne Zeit und Ort der Geschichte zu definieren, erzählt die Schweizer Autorin von der Krankenpflegerin Meret, einer mitfühlenden jungen Frau, die sich in der kalten Umgebung des Krankenhauses manchmal verliert und sich doch ihrer Aufgabe sicher ist: Durch die Eingriffe am Gehirn sollen Menschen, insbesondere Frauen, die an psychischen Krankheiten leiden, geheilt werden. Was bedeutet: wieder arbeitsfähig und gesellschaftstauglich gemacht.
Dazu wird die angeblich problematische Stelle im Gehirn «eingeschläfert» wie «ein krankes Tier», worauf Wutanfälle, Schizophrenie und Depressionen verschwinden sollen. Was nach einem Science-Fiction-Plot klingt, hat durchaus medizinhistorische Vorlagen. Inokai verpackt diese in eine tief berührende und kritische Geschichte.
In der Logik des Krankenhauses, in dem Meret arbeitet, ist der Mensch Biologie, er ist Zimmernummer, und wenn jemand stirbt, bleibt nur ein Raum, der möglichst schnell geputzt werden soll, ein Koffer mit Gegenständen, um die sich irgendjemand kümmern muss. Das Hirn ist eine Landkarte. Alles was ich bin ist irgendwo verortet. – Dem Menschen wird jedes Geheimnis genommen, er ist ein Bündel Nerven, in denen allfällige Probleme angelegt sind.
Merets Job hingegen ist es, die Menschlichkeit hineinzubringen. Sie hat mehr Zeit für ihre Patientinnen – und kommt ihnen dadurch näher, was Abgrenzung zum Teil unmöglich macht. Von den anderen Schwestern wird sie gelegentlich dafür belächelt.
Morgen werde ich verschwinden, erklärt eine Patientin vor der Operation. Ihre Wut wird verschwinden, berichtigt Meret sie. Und bald wird deutlich: so klar ist die Unterscheidung von psychischer Krankheit und Persönlichkeit nicht zu ziehen.
Es ist eine Welt aus Regeln, an die man sich zu halten hat. Wer sich widersetzt, muss angepasst werden – oder bestraft. Meret arbeitet viel, Antrieb ist die Hoffnung an Fortschritt, an den sie glaubt. So erarbeitet sie sich Privilegien, und der Doktor holt sie mehr und mehr in sein Büro.
Ab und zu besucht sie ihre Familie und zieht dazu ihr Kleid an, das sie «zu einer Tochter» macht. Auch in Merets Familie gibt es einen ganzen Katalog von ungeschriebenen Gesetzen. Nur die Schwester widersetzt sich allem und wird dadurch von Meret gleichzeitig geliebt und gehasst.
Als nun Sarah als neue Zimmergefährtin bei Meret einzieht, beginnt sich vieles zu ändern. Die beiden Frauen kommen sich näher, und es entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Sarah ist es auch, die leise Zweifel in Merets stabile Weltsicht zu streuen beginnt. Sie werden lauter, als eine Operation schiefläuft und eine junge Frau als leere Hülle ihrer selbst zurückbleibt. Dies sei der Preis für den Fortschritt, meint der Doktor. Dies ist kein Einzelfall, meint Sarah, sondern ein grundsätzlicher Fehler der Behandlung.
Inokai setzt das Skalpell an die schmerzhaften Stellen unserer Gesellschaft, indem sie diese überzeichnet – ohne jedoch karikierend zu werden. Und sie zeigt damit auf, dass wissenschaftlicher Fortschritt ohne gesellschaftlichen Wandel und ethische Auseinandersetzung uns in eine dystopisch anmutende Zukunft führen kann.
Denn wenn Gehirne modelliert werden können, die Strukturen aber immer noch patriarchal sind, lesbische Liebe unerwünscht und das Funktionieren des Menschen als Arbeitskraft oberstes Ziel ist – dann wird die Medizin dazu benutzt werden, diese Vorstellungen zu zementieren.
In Inokais drittem Roman leuchten ausgefallene Wortbilder zwischen nüchternen Sätzen, so wie Merets Wärme zwischen den getakteten Arbeitsschritten, wie der auf der Strasse gefundene Stuhl mit Zimmerpflanze im unpersönlichen Heimzimmer. Die Morgenstimmung im Schwesternheim wird beispielsweise so beschrieben: Auch der Gestank unruhiger Träume hing in der Luft, das Sandige, Erdige der Augen, aus denen die Unglücklichen den Schlaf zu reiben versuchten.
Inokai ist ein dichter und tiefsinniger Roman gelungen, der nachdenklich stimmt. Wir nehmen teil an Merets Weg, wenn sie zwischen Rebellion und Konvention hin und her stolpert, sich verliebt und distanziert, alle ihre Gewissheiten verliert und schliesslich einen Aufbruch wagt. Und so endet der zum Teil recht düstere Roman auch mit einem hoffnungsvollen «Ja».
(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)
Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, studierte Philosophie in Basel und Wien, anschliessend Drehbuch und Dramaturgie in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman «Storchenbiss». Für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift PS: Politisch Schreiben und lebt in Berlin.
Beitragsbild © Ladina Bischof