Diogenes sass in seinem Fass, bei Italo Calvino der Baron auf einem Baum. Bei Tine Melzer bleibt ein Mann in seinem Badezimmer, verlässt es nicht mehr, zieht sich zurück, kapselt sich ab und fröhnt dem süssen Nichtstun, auch wenn sich zusehends Bitternis einmischt. Nach ihrem furiosen Debüt „Alpha Bravo Charlie“ wagt Tine Melzer mit „Do Re Mi Fa So“ ein fast barockes Sprachabenteuer.
Tine Melzer ist nicht einfach Autorin. Sie schreibt nicht einfach Geschichten, will nicht bloss unterhalten. Tine Melzer ist Künstlerin. Die Sprache selbst muss Kunstwerk sein. Die Geschichte ist das Konstrukt, das das Kunstwerk trägt. Aber selbst das Konstrukt, die Partitur dieses Kunstwerks, der Plan, ist Wagnis, Experiment, vielleicht eine Spur Provokation, aber ganz gewiss die Aufforderung, mir selbst den Spiegel vorzuhalten.
„In jeder Rekapitulation steckt eine Kapitulation.“
Sebastian Saum ist erfolgreicher Sänger, ein gefragter Bariton. Er wohnt schon seit Jahren in Symbiose zusammen mit seinem Freund Franz Gold in einem grossen Haus, Franz unten, er oben. Auf der Klingel am Eingang steht Gold Saum. Das Haus ist geerbt. Sebastians Leben läuft in festen, geordneten Bahnen. Er hält sich die Welt auf Distanz.
Eines Morgens, nach einem Bad, beschliesst er, nicht mehr aus der Wanne aufzustehen, liegenzubleiben, zumindest das Bad mit Toilette und Fenster nicht mehr zu verlassen. Eine Laune. Vielleicht der Entschluss, seinem Leben im Stillstand eine neue Richtung zu geben; minimales Risiko mit maximalem Erfolg. Franz hilft ihm dabei, liefert an Decken, Kissen und Fellen, was er braucht, um sich in der Wanne niederzulassen, trägt ihm auf einem Serviertablett Essen und Getränke in die kleine Kammer und nimmt fürs erste hin, was nichts anderes als eine Marotte, eine Verstimmung, vielleicht ein Mini-Burnout sein kann.
„Fanz ist in perfektem Alter. Wäre er ein Brot, müsste man ihn jetzt aus dem Ofen nehmen.“
Sebastian bleibt nackt. Er gedenkt nicht mehr, sich zu kleiden, zu verkleiden, auch wenn ihm und seinem Freund die Garderobe bisher sehr viel bedeutete, vielleicht gar etwas davon ausmachte, was er als Künstler zu repräsentieren hatte. Zwar liegt da ein Laptop und ein Telefon, aber Sebastian hängt fast immer seinen Gedanken nach. Gedanken, die sich erstaunlich wenig um sich selbst drehen, viel mehr das Nachdenken darüber sind, was sein Leben bisher ausmachte.
Das Badezimmer wird zur Inszenierung. Zu einem Protest seinem eigenen Dasein gegenüber. Auch wenn er sich immer mal wieder um seinen Freund sorgt, ob er auch weiterhin auf die Hilfe seines Mitbewohners zählen kann. Wir, die wir Leben und Existenz mit aller Selbstverständlichkeit stets mit Leistung, Fleiss und Erfolg koppeln, werden Zeuge eines Selbstexperiments, einer stillen Demonstration, einer Inszenierung, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge wendet, wenn auch nicht gegen aussen. Sebastian denkt nach, macht Listen, über die Kleider in seinen Schränken, über die Tode jener Menschen, die in den letzten Jahren starben, über die schlechte Angewohnheit des Pfeifens, über all die Lieder in seinem Kopf, über Redundanz, über all die Menschen, Freundinnen und Freunde, die er aus den Augen verloren hat. Seltsame Listen, die das Aussen nach innen holen.
„Perfektionismus ist eine Sache von Leuten, die sich ihrer Sache nicht restlos sicher sind.“
Gleichzeitig nagt der Zweifel, klopft der Wahn. Vor der Tür hört er seinen Freund telefonieren, meist mit seiner Schwester. Irgendwann bekommt Sebstian trotz Protest Besuch von einer Frau, die sich im Bad auf den Klodeckel setzt und verkündet, man müsse mit Hilfe von Chemie ein Lösung finden.
„Do Re Mi Fa So“ ist maximal entfernt von autofiktionalem Schreiben. Dieser Roman ist eine Inszenierung. Ähnlich eines begehbaren Bildes. Ich sehe Sebastian Saum in seiner übergrossen Wanne, inmitten von Kissen und Decken liegen, eine Hand lässig über dem Wannenrand, ein Glas Wein auf dem Toilettendeckel. Die Welt kommt nur durch seinen Kopf in diese kleine Kammer, auch wenn das Fenster das eine oder andere Mal offen ist und Sebastian bei seinen zaghaften Turnübungen den Bauer aus der Nachbarschaft arbeiten sieht. Auch hier maximale Gegensätze.
„Das mit der Nähe ist so eine Sache – wer nicht aufpasst, dem drängt sie sich auf.“
Und dann die Opulenz, die Kraft der Farben. Tine Melzers ganz eigenes Gespür für Textilien, Oberflächen, die Haptik. Das Skurrile dieser Inszenierung. Auch hier die maximale Entfernung von einer Welt, die wuselt und stampft. Die maximale Entfernung von dem, was ich als Leser selbst unter Rückzug und Reflexion verstehen würde. „Do Re Mi Fa So“ ist Kunst. Ein Buch, dass es verdient hätte, auf der Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis zu erscheinen!
Interview (mit Arbeiten der Künstlerin Tine Melzer)
Danke!
Sebastian Saum ist ein satter Zeitgenosse. Man muss es sich leisten können, für eine unbestimmte Zeit weich gepolstert in seinem Badezimmer abzutauchen, mit Aussicht auf die Wiesen und Felder jener, die eine derartige Pause wohl gar nie verstehen würden. Dabei trägt wohl fast jede und jeder diesen Wunsch mit sich herum, für einmal einfach alles sein zu lassen, die Welt draussen zu lassen, nur seinen Gedanken nachzuhängen. Aber wir leben in einer Gesellschaft, die sich über Leistung definiert, über Erfolg und Resonanz. Die Kunst genauso. Wie weit ist dein Roman eine Versuchsanordnung?
Eine Versuchsanordnung prüft eine Hypothese; in manchem versucht der Roman so etwas. Was wird geprüft? Unser Verantwortungsgefühl, Fragen der Freundschaft und Treue. Mechanismen der Verdrängung und Scham, der Roman ist also auch eine Kritik. Saum ist zwar aus einer Laune in der Wanne gelandet, kommt dann aber nicht mehr so leicht heraus. Er geht von sich selbst aus und landet in einem Karussell der Erinnerungen und Beziehungskonstellationen. Es geht also auch um Entscheidungen und Bedingungen. Er kann es sich leisten, trotzdem läuft er Gefahr, darüber verrückt zu werden, oder depressiv.
Klar, du erzählst eine Geschichte. Sie bleibt seltsam kühl und distanziert. Das Drama, das sich dabei abspielen könnte, ist in den Decken und Kissen in der Badewanne abgefedert. Wer weiss, wäre Sebastian nie mehr aufgestanden. Was wäre geschehen, hätte ihn sein ergebener Freund nicht so fürsorglich unterstützt. Mir scheint, es ging dir gar nicht so sehr um das Drama. War es das Bild, das dich faszinierte, das Gedankenexperiment? Der Typus Mensch, der seine Gedanken in Richtungen schweifen lässt, die überraschend sind? Ging es um die Sprache, die Beschreibungen, die in dem begrenzten Bild des Badezimmers einen ebenso begrenzten Raum benötigen?
Sein Freund rettet ihn zunächst durch seine Bewirtung, versucht immer wieder neue Tricks ihn herauszulocken, ist ohnmächtig und gefangen in dieser neuen Abhängigkeit. Schliesslich rettet er ihn mit dem letzten Mittel, ihn (vorübergehend?) zu verlassen. Das ist natürlich ein Spoiler, nicht verraten. Es geht mir um das Drama, das einsetzt, sobald wir uns mit unseren Zweifeln auseinandersetzen und dadurch die Welt schrumpft oder bedrängend wird. Das steht nicht nur einem bestimmten Typus Mensch zu, alle Privilegierten könnten das, um andere Entscheidungen zu treffen. Und um das Drama, verstanden werden zu wollen. Das Badezimmer ist der ideale (Rückzugs-)Ort dieses Kammerspiels, durch seine Kühle und zugleich Intimität ein passender Ort für diese Parabel, diese Übertreibung. Die Nacktheit ist nicht nur konkret, sondern auch im übertragenen Sinn das, was ihn verletzlich macht.
Dein Roman ist ausgesprochen stofflich, mehrdeutig gemeint, textil, voll von sinnlichen Beschreibungen. Sprache ist auch ein Stoff, mal seidenweich, mal bretthart, aschfahl oder grell bunt. Dein Erzählen lebt von Listen, Aufzählungen, die sich wie Kaskaden lesen. Faszinierend, aber wohl für viele „Unterhaltungsleser*innen“ fremd. Ist dein Schreiben für dich einfach der sprachlicher Ausdruck deiner Kunst, eine Art Malerei mit Sprache?
Vergleiche, Listen und Ähnlichkeiten sind gute Methoden, um Bedeutungs-Varianten zu zeigen, Verwandtschaften und Gegensätze. Ich suche Pluralität und Mehrdeutigkeit. Auf meinem beruflichen Hintergrund untersuche ich seit langem in verschiedenen Kontexten die Zusammenhänge zwischen verbaler und nonverbaler Sprache, also Bilder in der Sprache. Weniger die Malerei, als die Auffassung von Sprache als (konkretes) Material hat mich zur Literatur geführt. Dort ist die Schrift das Medium, in jedem Satz wird neu verhandelt, wie wir die Sprache als Gewebe zwischen einander nutzen, verstehen, verschieben können. Die Sprache verbindet und trennt gleichzeitig; wo Saum sie wörtlich nimmt, scheinen Bilder darin auf. Die Sprache enthält unser Weltbild. Also sind es eher mentale Bilder, Aha-Erlebnisse, die ich ‘male’. Und die plötzlich nicht nur die Figur betreffen oder treffen.
Ich bewundere Sebastians Freund Franz, der mit ihm unter dem gleichen Dach wohnt, wie lange er mit stoischer Geduld die Eskapde seines Freundes trägt, wie er ihn mit dem Nötigsten versorgt, ihn kulinarisch verwöhnt, bis ihm dann doch ziemlich deutlich der Kragen platzt: „Ich ziehe dich nur nutzlos herum, wie einen toten Elefanten.“ Doch auch ein Satz, der sehr gut ins Argumentarium kulturkritischer Kreise passen würde!
Beide nehmen mehr oder weniger offensichtlich Bezug auf die Rolle der Kunstschaffenden und deren Wert für die ‘Gesellschaft’, die beide alimentiert. Das Essen spielt im Roman eine zentrale Rolle, es verbindet den Menschen mit einem Grundbedürfnis und macht ihn tierähnlich, es ist auch Analogie zur Ermöglichung von Kunst. ‹Aus der Badewanne kann niemand die Welt retten›, ausser es wird darin ordentlich sublimiert, so die Erwartung. Ich schätze Kunst, die aus existentiellen Beweggründen gemacht wird oder unterstützt. Für undogmatische Vielfalt. Und gegen das kollektive Wegschauen. Saum hat also nicht nur Gelegenheit, ’seinen Gedanken nachzuhängen›, sondern gerät an unangenehme Zusammenhänge zwischen sich selbst und der Welt.
Ich liebe dein Buch aus vielerlei Gründen. Nicht zuletzt darum, weil sich in deinem Buch Sätze finden, die ich am liebsten gross an eine Wand schreiben würde. Sätze, die wie Türen wirken, an denen ich kurz verweilen musste, um hineinzusehen oder hineinzugehen. Ist dein Schreiben mehr Lust oder harte Arbeit? Was passiert mit Tine Melzer, wenn sie schreibt?
Die grösste Lust ist das Zusammensetzen der Texte zu einem Gesamtbild. Das Buch ist dann eine Komposition, eine Zusammensetzung wie ein Stück, das dem Publikum überlassen wird, und zugemutet. Ich schreibe nicht ‘plotgesteuert’, ich weiss anfangs nicht, wie sich die Figuren oder deren Handlungen entwickeln werden. Ich folge der Sprache und schaue ihr dabei zu, wie sie sich durchsetzt, sich behauptet, manchmal ‘gegen’ eine Idee oder Geschichte. Wenn ich schreibe, umschwirren mich manche Worte wie Fliegen, die ich aufschreiben muss, damit sie mich in Ruhe lassen. Ich vertraue der Sprache, ja, als Stoff, nehme Worte buchstäblich, folge dem Credo Wittgensteins, dass manches sich sagen lässt, anderes zeigen. Das Schreiben sucht die Grenzen der gewohnten Sprache auf, u.a. weil es materialisiert, wovon wir sonst wenig Zeugnis haben oder ablegen. Die harte Arbeit ist es, den Tag zu überstehen und diszipliniert Nischen zu finden, in denen ich schreiben kann.
Tine Melzer, geboren 1978, lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte Kunst und Philosophie in Amsterdam, promovierte in Plymouth über Ludwig Wittgenstein und Gertrude Stein und ist Dozentin an der Hochschule der Künste Bern. Ihr 2023 erschienener Debütroman «Alpha Bravo Charlie» wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis, und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert.
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Beitragsbild © Jakub Kovalík