Was macht ein Land, das von einer Grossmacht bedroht wird? Was, wenn die Bedrohungen eines Landes von ganz vielen Mächten ausgehen? Alice Grünfelder schreibt mit einem Herz voller Leidenschaft.
Erstaunlich, wie wenig deutsche Buchveröffentlichungen über Taiwan in den letzten Jahren erschienen sind. Auch erstaunlich, wie wenig Literatur, sei es Lyrik oder Prosa, aus Taiwan ins Deutsche übersetzt wurde. Eine der löblichen Ausnahmen ist der bei Matthes & Seitz von Wu Ming-Yi erschienene Roman „Der Mann mit den Facettenaugen“. Ein Autor, Künstler, Umweltaktivist und Professor, der schon für den Man Booker International Prize nominiert wurde, bei uns aber weitgehend unbekannt blieb. Wesentlich bekannter im deutschen Sprachraum ist Stephan Thome, der viele Jahre und immer wieder auf der Insel Taiwan lebt und seinen Roman „Pflaumenregen“ dort spielen lässt.
Dass sich die Sinologin, Germanistin und Schriftstellerin Alice Grünfelder seit Jahrzehnten mit Taiwan beschäftigt, ist nicht weiter verwunderlich. Aber sehr wohl erstaunlich ist die Art und Weise, wie Alice Grünfelder sich mit diesem Inselstaat zwischen den Fronten der Grossmächte beschäftigt.
Sie tut das in der Tradition der klassischen Pinselnotizen, biji, essayistischer Miniaturen, die Reiseeindrücke, Gedanken, Beobachtungen, Anekdoten, Betrachtungen bis hin zu Gedichten und eigentlichen Reportagen in einem Buch versammelt, in Überschriften alphabetisch geordnet. „Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“ ist weder Reiseführer noch Sachbuch. Da ist mehr als Faszination für ein Land, das gleich auf mehreren Ebenen bedroht ist und wird. Aus Alice Grünfelders Buch ist Liebe zu spüren, die Liebe für ein Land, eine ganz besondere Insel, eine Geschichte und mit Sicherheit auch die Liebe für einen David, der angesichts eines riesigen Goliaths weder in Lethargie noch Depression verfällt.
Taiwan, eine Insel wesentlich kleiner als die Schweiz aber mit dreimal höherer Bevölkerungszahl, ist ein hoch technisierter Staat, von den wenigsten Staaten als solcher anerkannt und ganz im Gegensatz zu seinem übermächtigen und aggressiven Grossnachbarn seit einem Vierteljahrhundert ein weitgehend demokratisch funktionierender Vielvölkerstaat. Seit dem 16. Jahrhundert immer wieder von fremden Mächten besetzt, droht die Volksrepublik China offen mit der gewaltsamen Eroberung der Insel. Dass solche Drohungen ernst zu nehmen sind, beweist uns die Geschichte nicht erst seit der Annektierung der Krim durch Russland und den Eroberungs- und Vernichtungskrieg seit dem 24. Februar auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine. Aber ganz offensichtlich lässt sich die Inselbevölkerung Taiwans durch die unmissverständlichen Drohgebärden des Einparteistaats China nicht einschüchtern. Ganz im Gegenteil. Taiwan prosperiert. Nicht nur dank ihrer marktbeherrschenden Stellung in der Produktion von Computerchips.
Alice Grünfelder wollte eigentlich wegen eines Sprachaufenthalts für ein halbes Jahr, zur Auffrischung ihrer Sprachkenntnisse auf die Insel. Ich werde nichts über Taiwan schreiben. Nur Postkarten, das muss genügen, schreibt sie unter dem Titel „Schreiben“. Und nun ist doch viel mehr aus dem halben Jahr geworden; eine Annäherung an ein Land, eine Kultur, die wechselseitige Geschichte, die Landschaft und die vielfältigen Bedrohungen. Die Stürme, die Taifune, die Erdbeben, die Vulkane, die Unwetter, der steigenden Meeresspiegel, die klimatischen Veränderungen – und China.
Was sie schreibt, ist behutsam und voller Respekt, eingetaucht in Liebe für ein Land, dass sich selbstbewusst und demokratisch allen Widrigkeiten zum Trotz diesen Bedrohungen stellt. „Wolken über Taiwan“ ist eine Annäherung mit Mehrfachperspektive, eine vielfältige Einladung, sich mit einem Land zu beschäftigen, das sich all den Bedrohungen stemmt, geschrieben von einer Frau, die mit literarischen Stimmen umzugehen weiss.
Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, zuletzt «Vietnam fürs Handgepäck» (2012) und «Flügelschlag des Schmetterlings» (2009). Sie veröffentlichte eigene Gedichte, Essays und Erzählungen. Ihr Roman «Wüstengängerin» erschien 2018, der Essay «Wird unser MUT langen» 2019. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ I
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ II
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ III
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ IV
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ V
Alice Grünfelder „Postkarten aus Taiwan“ VI
Alice Grünfelder «Postkarten aus Taiwan» VII
Beitragsbild © Alice Grünfelder