Andrea Scrima lebt und arbeitet als bildende Künstlerin in Berlin. Ihr erster Roman erzählt nicht so sehr eine Geschichte, als dass er sich mit Augen-Blicken beschäftigt, mit Wahr-Nehmung, in Pendelbewegungen zwischen Berlin und New York.
Neben Betrachtungen über Geschehnisse um sie herum, in Ateliers, in Wohnungen, in Strassen und Städten, sind es Menschen; Nachbarn, Bekannte und Freunde, ihr Bruder, mit dem sie sich fast symbiotisch verbunden fühlt, ihre Verwandten und ihr Vater, den sie durch Krankheit verliert. «Wie viele Tage» ist eine literarische Auseinandersetzung mit der Erinnerung.
«Mein Bewusstsein läuft diesem Moment hinterher, und dem nächsten, und dem danach; ich nehme mir vor, mir jedes Detail einzuprägen, doch ich kann es nicht, und ich kann nicht in der Gegenwart existieren und im Wissen, dass ich ein Grossteil dessen, was ich um mich herum sehe, vergessen werde.»
Andrea Scrima ist eine Meisterin des Sehens, vermag mit ihrer feinen Wahrnehmung Oberflächen aufzubrechen, dahinter liegende Schichten freizulegen. Genau das Gegenteilige von dem, was in der Malerei sehr oft passiert. Sie kann profansten Momenten Poesie abgewinnen, mit Sprache und Melodie. Und doch scheint Andrea Scrima weit vom Geschehen distanziert zu sein. So nah sie mit ihren Empfindungen dem Geschehen kommt, so weit scheint sie sich vom Wahrgenommenen zu distanzieren, nicht wirklich dazugehörend, nicht mitgenommen werden wollend.
«Wie viele Tage» liest sich nicht leicht, wenn auch nicht verschlüsselt. Wer das als «Roman» verkaufte Buch liest, sucht vergeblich nach einem durchgehenden Handlungsstrang, einer vielleicht verborgenen Geschichte. Ich las das Buch wie lyrische Prosa, eine mäandernde Textspur durch ein Leben, das Empfinden einer Empfindsamen. Keine Nabelschau, aber der Lyrik näher als einer Erzählung.
Andrea Scrima schreibt, wie sie arbeitet, wie sich das Sehen in ihrer Kunst manifestiert. Wie sie ihre Umgebung, ihre Welt zu erfassen versucht, wie sie sich mit ihr vertraut macht. Wie wenig sie dabei von sich selbst gefangen ist! Andrea Scrima muss keine Geschichte loswerden. Sie nimmt mich mit auf eine Reise durch ihre Welten.
Ein Buch über Lebensspuren, Aufbrüche und Einsichten von dem, was bleibt oder sonst ins Vergessen rutscht. Erinnern schafft Ordnung. Andrea Scrima erinnert sich, ordnet, bringt Erinnern in Ordnung, ordnet Erinnerungen neu und fragt sich immer wieder, nach jeder «Neuordnung», ob das, was geworden ist, nun ganz anders ist.
Andrea Scrima, geboren 1960 in New York City, studierte Kunst an der School of Visual Arts in New York und an der Hochschule der Künste in Berlin, wo sie seit 1984 als Autorin und bildende Künstlerin lebt.
Ihre Arbeiten waren in internationalen Museen und Ausstellungen zu sehen.
Sie schreibt Literaturkritiken für «Quarterly Conversation, Music & Literature» und «The Brooklyn Rail».
Titelfoto: Sandra Kottonau