Weinfelder Buchtage 2019

Zsuzsa Bánk, Alex Capus, Walter Millns, Marius und die Jagdkapelle, Hans Platzgumer, Michael Theurillat und Verena Rossbacher waren bei der 3. Ausgabe der Weinfelder Buchtage die klingenden Namen, mit denen das Team rund um Katharina Alder Literaturinteressierte aus nah und fern zu locken wusste.

Nach seinem vielbeachteten Roman «Am Rand» erschien 2018 sein neuster: «Drei Sekunden Jetzt». Ein Roman über ein Findelkind auf der Suche nach seiner Herkunft, seiner Identität. Hans Platzgumer, der auch Musiker und Theaterkomponist ist, erzählte, dass er bei der Lektüre von Tschechows Theaterstück «Der Kirschgarten» zweimal fast auf die gleiche Textstelle stiess, die Ursprung seines Romans wurde: «Ich weiss nicht, wie alt ich bin, und ich habe immer das Gefühl, ich bin jung. Woher ich komme, wer ich bin, wer meine Eltern waren… Ich weiss nichts. (Charlotta Iwanowa in «Der Kirschgarten von Anton Tschechowa, 1903). Es sei die Mischung aus der Melancholie des Nichtwissens und der unendlichen Chance, aller offen stehenden Möglichkeiten, die ihn beim Schreiben angetrieben hätten. Hans Platzgumer wollte einen Roman schreiben über jemanden, dessen Ankerseil gekappt ist.

François, der eigentlich nicht einmal weiss, wie sein richtiger Name einst war, wurde mit 13 Monaten «zur Hand» genommen, hineingeschoben in einen Supermarkt und stehengelassen, hinausgetrieben aus einer Familie, in der es mit ihm an machbarer Zukunft fehlte.
François weiss, dass es eine Mutter gibt, oder zumindest eine Frau, die sich dafür halten lässt. Auf einem Überwachungsvideo des Supermarktes festgehalten, eine Frau mit Kopftuch und Sonnenbrille, die den Kinderwagen in der Buchabteilung zwischen den Regalen stehen liess, vielleicht in der Hoffnung, dass sich da jemand dem Kind annimmt, jemand, der bildungsnah, belesen, intelligent und mit voller Brieftasche wäre.

Aber François genügt die neue Familie, in die er aufgenommen wird, nicht. Da bleibt dieser Schmerz, das Offene, diese Wunde, das Nicht-wissen. Kaum erwachsen haut François ab, landet in einem seltsamen Hotel am Löwengolf, westlich der Stadt Marseille. In einem heruntergekommenen, undurchsichtigen Hotel mit Namen «Le Richard», wo er ein Zimmer, eine Arbeit, einen Hafen am Meer der Möglichkeiten bekommt.

François ist Fatalist, der sein Leben durchaus in den Griff zu bekommen versucht, daran und am Leben selbst scheitert. In Marseille, der Stadt der grossen Ungewissheit, dem Schmelztiegel alles Fremden, einer Stadt, die Hans Platzgumer durch viele Aufenthalte bestens kennt; ein Tor zu Welt für Ankommende und Wegfahrende, jene Stadt, die neben Paris wie keine andere in Geschichte und Literatur bis in die Gegenwart zum bedeutenden Schauplatz wurde.

«Drei Sekunden Jetzt» sind die drei Sekunden Gegenwart, die man als solche wahrnimmt, dieses kleine Stück, das danach in die Vergangenheit rutscht, Stück für Stück, eine lange Kette. Die Gegenwart ist das einzige, worauf sich François verlassen kann. François, einmal und immer wieder alleine gelassen, macht sich auf die Suche dessen, was Erinnerung ist.

Hans Platzgumer liest neben dem kleinen Tischchen mit Lampe und Wasserflasche, den Requisiten, die man für ihn bereitgestellt hatte. Er ist Theatermann, versteckt sich nicht, auch wenn seine unruhigen Beine den Eindruck machen, als müsse die Stimme sich aus ihm herauswinden. Er liest wie ein Theatermann, den Blick oft im Publikum, seine Geschichte lebendig machend, manchmal Sätze lang auswendig.

Am Schluss der Lesung war die Bewunderung gleichmässig auf Autor und Veranstalterteam verteilt. Man weiss in Weinfelden, was man an der kleinen Truppe um die Buchhändlerin Katharina Alder hat. Die Gruppe schenkt der Stadt drei Tage lang Geschichten, einen Tisch voll lebendig gewordener Literatur; Begegnungen der besonderen Art.

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz. Er studierte an der Musikhochschule in Wien, absolvierte ein Filmmusik-Studium in Los Angeles und veröffentlichte in unterschiedlichen Formationen elektronische Musik. Er schreibt Romane, Hörspiele, Opern, Theatermusik und Essays. Sein Roman «Am Rand» stand 2016 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

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Beitragsbild © Dominik Anliker

Elisabeth Binder in der Buchhandlung klappentext Weinfelden

Seit ein paar Jahren überrascht und erfreut die Buchhandlungen klappentext in Weinfelden mit einer feinen Buchauswahl, viel Engagement und Fantasie und einem erstaunlichen Buch-Kulturprogramm. Am Mittwoch, 11. Januar, um 19.30 Uhr, liest Elisabeth Binder aus ihrem neusten Buch «Ein kleiner und kleiner werdender Reiter».

Elisabeth Binder ist Gründerin des 2014 erstmals in Erscheinung getretenen amato-Verlag in Unterstammheim im Kanton Thurgau. In ihrem in diesem Verlag erschienen Buch «Ein kleiner und kleiner werdender Reiter» unternimmt die Autorin Spaziergänge, Annäherungen an den Ort ihrer Mutter Kindheit. Ein Dorf an der Thur, das zwischen den Kriegen und danach durch Textilindustrie Bedeutung erlangte und diese in der Gegenwart wieder verlor. img_0210Elisabeth Binder sucht nach dem, was von ihrer Vergangenheit und derer des unscheinbaren Dorfes geblieben ist, nach Bildern aus der Kindheit, Spuren ihrer Familie und all jener Menschen, die damals das Leben des Dorfes ausmachten. Zugegeben, da schwingt manchmal Schmerz und Ernüchterung mit über all das Unwiederbringliche. Trotzdem ist jede Seite von so viel Liebe, Zartheit und Respekt getragen, dass selbst das Kaff, zu dem das Dorf geworden ist, zu einer Perle wird, zu einer ganzen Kette literarisch eingefärbter Perlen, von denen ich mich entzücken liess.

img_0209Elisabeth Binder ist 1951 in Bürglen (Thurgau/Schweiz) geboren. Nach einem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich war sie Lehrerin, dann Literaturkritikerin beim Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung». Seit 1994 ist sie freie Schriftstellerin. 2004 erschien bei Klett-Cotta ihr Roman «Sommergeschichte», 2007 «Orfeo» und 2010 «Ein Wintergast». Elisabeth Binder erhielt die Medaille der Schweizer Schiller-Stiftung sowie den Förderpreis zum Mörikepreis.

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