„Zürich liest 2017“
Eine Überfülle an Literatur in Zürich? Spüre ich etwas davon, dass „Zürch liest“, wenn ich aus dem Zug in Zürich steige? Vielleicht müsste ich randalieren, einen Zug per Notbremse zum Halten zwingen, ein Riesenaufgebot an Polizei provozieren, so wie beim Risikofussballspiel zwischen Basel und Zürich. Müsste geschriebene Kunst nicht etwas mehr, als gefällig mit Sprache winken? Wo bleibt die Schärfe, der Mut, der Biss in der Spektakelstadt Zürich?
In einem der Flaggschiffe des Zürcher Literaturfestivals „Zürich liest 2017“, im Literaturhaus Zürich, lasen am Samstag Mariana Leky aus ihrem Bestsellerroman „Was man von hier aus sehen kann“ und Sten Nadolny aus „Das Glück des Zauberers“. Beide wurden sie mit ihren Romanen von ihren jeweiligen Moderationen zum „Magischen Realismus“ gezählt, der Verschmelzung von magischer Realität und realer Wirklichkeit. Aber wie magisch war dieser Abend im Literaturhaus Zürich denn wirklich?
Mariana Lekys Roman ist ein Dorfkosmos rund um Selma, die feststellen muss, dass immer, wenn sie nachts von einem Okapi träumt, jemand im Dorf innert 24 Stunden stirbt. Eine scheinbare Tatsache, die ein ganzes Dorf umtreibt. „Schon einmal ein Okapi gesehen?“, fragte die Auorin. „Irgendwie zusammengesetzte Tiere, irgendwie aus bekannten Einzelteilen zu einem neuen, nicht wirklich passendem, zusammengesetzt.“ Das Okapi ist das „Wappentier“ des Romans. So, wie viele die Menschen im Buch in ihren „Einzelteilen“ nicht wirklich zusammenpassen, sieht das Okapi zusammengesetzt aus. Mariana Leky erzählt langsam und genau, verstärkt durch ihre sprachliche Präzision meinen Blick. Sie versteht es, Menschen darzustellen, die langsam und doch mutig sind, etwas, was im realen Leben nicht zusammenzupassen scheint. Mariana Leky erzählt von Luise und ihrer Wunschgrossmutter Selma. Von Eltern, die nie da sind, wenn sie gebraucht werden und über einen grossen Bogen von der 22 Jahre alt gewordenen Luise, die auf der Suche nach ihrem verloren gegangenen Hund Alaska einen 25jährigen buddhistischen Mönch trifft, der zum Mann ihres Lebens wird, sie, die Verstockte, sie, die für einmal die Initiative ergreift. Nicht wie der Optiker im Dorf, der seine Liebe zu Selma, Luises Grossmutter, über Jahrzehnte in einem Bündel Liebesbriefe mit sich herumträgt.
Ergreifende Literatur, wunderbar leicht erzählt. Ein zartes Buch über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Nur oberflächlich betrachtet Wohlfühlliteratur. Mariana Leky macht im Kleinen Grosses auf. Es passieren durchaus tragische Dinge, aber ohne dass mit der Axt geschwungen wird. Tragik von Komik flankiert. Nicht dass am Schluss alles gut sein müsste. Aber Mariana Lekys Buch tut gut.
Etwas, was Sten Nadolny so nicht gelingen will. Nadolny erzählt in zwölf langen Briefen, die der grosse Zauberer Pahroc seiner Enkelin Mathilde schreibt, von 111 Jahren eines grossen Zaubererlebens und eines schrecklichen Jahrhunderts. Mag sein, dass das „Zauberthema“ arg strapaziert ist und ich als Nadolny-Leser mit jedem Roman des Autors jene absolute Faszination zurückwünsche, die ich seit drei Jahrzehnten seit seinem unübertroffenenen Buch „Entdeckung der Langsamkeit“ erwarte. Sten Nadolny bemüht sich, paart Witz mit Düsternis, Schrecken mit Komik, Magie mit der Grausamkeit von Krieg, Schmerz und Verzweiflung. Sehe ich den mittlerweile über 75 Jahre alt gewordenen auf der Bühne erzählen und funkeln, nimmt er mich noch immer für sich ein. Selbst das mir fremde Thema, das er zu einer Metapher für intelligente, kreative und bewegliche Menschen gesehen haben will, die permanent in der Gefahr seien, zu einer Minderheit zu werden. Heute erst recht, in einer Zeit von Engstirnigkeit und Borniertheit, wo blanker Hass und dumpfer Nationalismus Politik machen. Dem Roman fehlt die Tiefe, vielen Szenen der Atem. Wenn Sie ihn noch nicht gelesen haben, lesen Sie „Die Entdeckung der Langsamkeit“ – epochal!
Magisch waren die beiden Gäste auf der Bühne, magisch und literarisch aber nur der Roman von Mariana Leky.
Und die Magie einer Stadt, die liest? Zürich liest nicht mehr oder weniger als andere Städte, mit oder ohne Literaturfestival. Zürich liest in geschlossenen Räumen, still für sich, alle jenen Recht gebend, die Literatur Eliten und Abgeschotteten zuordnen. Schade.