Helga Schubert «Vom Aufstehen», dtv

Helga Schubert gewann 2020 mit Auszügen aus ihrem Buch „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis. Für ein Buch, das mit seinem Erzählen selbst eine Hommage ist an die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, an ihr Buch „Das dreißigste Jahr“, das ebenfalls mit einer Betrachtung über das Aufstehen beginnt.

Schreiben ist immer Aufstehen. Und Helga Schubert ist in ganz besonderer Weise „aufgestanden“. „Vom Aufstehen“ ist weder Erzählband, auch wenn er erzählt, noch Roman. Ihr Buch ist ein Erinnerungsbuch, ein Gedankenbuch, manchmal erzählend, manchmal essayistisch. Helga Schubert richtet sich auf und schaut zurück. Zurück in die Vergangenheit, in ein aufgelöstes Land, in eine Familie, ihre Familie, bis in den ausgehenden 2. Weltkrieg, das Leben in der DDR, den Mauerbau, das Leben hinter oder vor der Mauer, auf die kleinen und grossen Dinge des Lebens.

Helga Schubert «Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten», dtv, 2021, 224 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-423-28278-9

Und nebenher ist die Geschichte Helga Schuberts selbst Geschichte, auch die Geschichte bis zur Preisverleihung, an der sie wegen Corona in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen nicht teilnehmen konnte. Man hatte sie 40 Jahre zuvor 1980 schon einmal nach Klagenfurt eingeladen. Damals verweigerte ihr ihr Land die Teilnahme am Wettlesen. Es gäbe keine „deutsche Literatur“, das „Unternehmen Bachmannpreis“ sei nur dazu da, um dieses Phänomen der deutschen Literatur voranzutreiben. Nichts desto trotz, noch vor der Wende sass Helga Schubert von 1987 bis 1990 dann in der Jury des Wettbewerbs. Und 2020, im Alter von 80 Jahren, 40 Jahre nach ihrer ersten Einladung wurde die Schriftstellerin von der Literaturkritikerin und Jurorin Insa Wilke nach Klagenfurt gebeten, wo sie als älteste Teilnehmerin des Wettbewerbs zur Siegerin erklärt wurde. Eine schöne Geschichte!

„Ich habe wie jeder Mensch meinen Schatz in mir vergraben.“

Helga Schubert erzählt aus ihrem Leben, von der Hängematte in den Obstbäumen im Garten ihrer Grossmutter mit Streuselkuchen und Muckefuck, jenem Lebensgefühl, dass ihr nur ihre Grossmutter schenken konnte, niemals ihre Mutter, jenem Lebensgefühl, das sich nur in den langen Sommerferien bei ihrer Grossmutter freisetzen konnte. Über ihren Vater, der im Winter 1941 auf einem vereisten Arm der Wolga von einer Handgranate zerrissen wurde, jenen unbekannten Mann, von dem sich die Tochter ein Leben lang gerne in den Arm genommen gewünscht hat. Über das Ein- und Ausgesperrtsein hinter oder vor Mauern, den Mauern der DDR. Vom Mut, den Märchen Kindern und dem Kind im Erwachsenen schenken können. Von den Schubladisierungen einer DDR – und einer Schriftstellerin, die klar zu machen versucht, dass man sich sein Herkunftsland nicht wie einen Mantel aussucht.

„Nicht dorthin sehen, wo Sie nicht hin wollen, sondern dorthin, wo Sie hin wollen, in die Kurve sehen, nicht an den Rand.“

In ihrem Schreiben, dem Buch „Vom Aufstehen“, das sie in Anlehnung an Ingeborg Bachmanns „Das dreißigste Jahr“ ursprünglich mit „Das achtzigste Jahre“ betiteln wollte, in dem sie immer wieder zu ihrer Grossmutter zurückkehrt, als wäre sie einer der wenigen Leuchttürme in ihrem Leben, erinnert in vielem an das grosse literarische Vorbild und bleibt doch eigenständig. So wie Herta Schubert erzählt, kann nur eine in die Jahre gekommene Schriftstellerin schreiben, jemand der weiss, dass viel mehr hinter ihr liegt als vor ihr. „Der Grossteil meines Lebens ist vorbei. Und es geht immer schneller. Wie in den Trichter eines Ameisenbären rutsche ich, der Sand gibt nach.“ Aus jedem Satz, jeder Geschichte leuchtet Demut und Dankbarkeit. Und immer wieder die Frage, wo das eigene Zuhause ist, nicht nur geographisch, sondern letztlich auch in ihrem Schreiben.

„Vom Aufstehen“ rührt!

Interview

„Ein Leben in Geschichten“ steht auf dem Buchumschlag. War das von Beginn weg der Plan zu diesem Buch? Oder entstand die Verwandtschaft zu Ingeborg Bachmanns „Das dreißigste Jahr“ erst nach und nach?

Am Anfang und am meisten durchgearbeitet stand der Wettbewerbstext zum Bachmann-Wettbewerb. Ihn hätte ich gern „Das achtzigste Jahr“ genannt, als Huldigung an Ingeborg Bachmann. Denn die Idee zu dieser Lebensbilanzgeschichte kam ja erst nach der Einladung zum Wettbewerb. Normalerweise bewirbt man sich ja bei diesem Wettbewerb und wird nicht, wie ich von einem Jurymitglied, aufgefordert, sich zu bewerben. Von mir aus wäre ich doch gar nicht auf die Idee gekommen, als Achtzigjährige da mitzumachen.

Noch am Tag der Preisverleihung meldete sich bei mir die erfolgreichste Literaturagentin Deutschlands, Karin Graf, die ausschließlich Literaturpreisträger vertritt, und bot mir einen Vertrag an. Ich sollte ihr umgehend ein Buchmanuskript schicken, das ich aber gar nicht hatte. Sie bezog sich auf eine Interviewäusserung, dass ich sehr viele Erzählungen in der Schublade hätte, die ich regelmässig in unserer Gemäldegalerie bei den monatlichen Bilderwechseln vorgetragen hatte und die bei unserem kunstverständigen Publikum (oft bis zu 70 Personen) ein sehr wohlwollendes Echo fanden. Als ich diese Erzählungen von der Festplatte ausdruckte und alte Kopien zusammensuchte, stellte ich fest, dass sie in einem sinnhaften Zusammenhang standen, dass sich nichts wiederholte, dass sie alle in der Ichform geschrieben waren, dass sie in einen lebensgeschichtlichen Ablauf gebracht werden konnten. Ich schrieb einige Texte um, einige neu. Und ich konnte schon 8 Wochen nach dem Bachmannpreis das Manuskript an die Literaturagentur geben. Mehrere Verlage hatten sich schon deshalb bei ihr gemeldet, aber der dtv hatte die weitreichendsten Konditionen, denn sie wollten nach und nach alle früheren, vergriffenen Bücher auch wieder drucken.

Dann kam für ein paar Tage eine sehr intelligente junge Verlags-Lektorin extra aus München hier nach Nordwestmecklenburg, und ich fand noch passende Texte auf meiner Festplatte, die ich noch gar nicht ausgedruckt hatte. So war das Buch ein Puzzle, das aufging.  

Immer wieder tauchen ihre Grossmutter, ihre Mutter und ihr Vater auf. Ihr Vater, obwohl er der grosse Abwesende war, ihre Mutter, mit der sie noch immer hadern und ihre Grossmutter, die alles versinnbildlicht, was Mütterlichkeit und Geborgenheit bedeuten kann. Irgendwann schreiben Sie, das Schreiben sei ein Versuch der Ordnung. Künstlerische Auseinandersetzung als Versuch des Ordnens?

Ja, als Versuch der Einordnung. Mir ist klar, dass zur menschlichen Reife auch ein Einverständnis mit der eigenen Lebenssituation, mit dem vergangenen Leben und mit allen nichtgelebten Möglichkeiten gehört. Ein Ja sagen zu sich. Das Schreiben hilft mir beim genauen Betrachten, beim Weglassen, beim Verabschieden. Das ist eine Hilfe vor dem Überschwemmtwerden und vor der Traurigkeit. Es ist eine Ehrfurcht und eine Bewunderung der Ordnung Gottes.

„Der Grossteil meines Lebens ist vorbei. Und es geht immer schneller. Wie in den Trichter eines Ameisenbären rutsche ich, der Sand gibt nach.“ Klingt da Schmerz mit?

Manchmal Schmerz, aber nicht die Angst vor dem eigenen Lebensende, sondern die Angst vor dem Tod geliebter Menschen. „Noch leben alle, die wir leben“, endet eines der wunderbaren Gedichte von Friederike Mayröcker.

Aus dem ganzen Buch strahlt und spricht ein grosser Hunger. Nicht so sehr der Hunger nach Antworten, als jener nach Klarheit, nach Kontur, nach Bildern. Sie sind im vergangenen Jahr 80 geworden. Satt scheinen Sie noch lange nicht zu sein?

Ich bin überwach und sehr intensiv. Meine Fantasie ermöglicht mir alles. Das muss in Wirklichkeit gar nicht geschehen. Es ist alles Farbe und Wärme um mich.  

Das Bild auf dem Cover zu Ihrem Buch ist von einem ganz jungen polnischen Künstler. Igor Moritz. Das Bild passt perfekt zum Inhalt, zeigt jenen Moment vor dem Aufstehen, wo sich Gedanken- und Traumbilder mit dem Augenblick mischen. Gibt es diesen magischen Moment? Und lässt er sich im Alter besser auskosten?

Ich lebe meist in diesem Zustand. Menschen, die uns besuchen, wollen immer wieder kommen. Es hat mit dem Alter, glaube ich, nichts zu tun. Es hat bei mir damit zu tun, dass ich wohl kaum Filter habe, mich nur durch Totalrückzug schützen kann. Denn sobald ein Mensch in unserem Haus auftaucht, interessiere ich mich für sein Leben, sei es die Notärztin von nebenan, die mir von den glücklich Verstorbenen erzählt, die eine Operation ablehnten, oder der Bauer von gegenüber, bei dessen trächtiger Stute gerade ein Hirntumor festgestellt wurde und der vom Tierarzt gerade erfuhr, dass dieses Tier bei der Geburt seines Fohlens ganz sicher sterben wird. 

Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, studierte an der Humboldt-Universität Psychologie. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin in der DDR und bereitete als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches die ersten freien Wahlen mit vor. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte ›Vom Aufstehen‹ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.

Beitragsbild © Renate von Mangoldt