Eine junge Frau springt von einer Brücke. Aber nicht, weil sie Schluss machen will, sondern weil es ein Neubeginn sein soll. Von der „Alten Brücke“ in Mostar, jener steinernen Bogenbrücke über die Neretva, über eine Brücke, die mit ihrer Zerstörung 1993 zum Symbol des Bosnienkrieges wurde. Ein Sprung, der ein Versprechen einlösen sollte.
Gianna Lange schrieb mit ihrem feinmaschigen Debüt ein Stück Literatur, dass es in sich hat. Eine vielschichtige Geschichte über eine junge Frau und ihre Familie. Eine Familie, die zerrissen ist. Über die Gewissheit, dass man sich seiner Herkunft nicht verschliessen kann, dass die Frage nach dem Woher wenigstens jenes Mass an Antworten braucht, um sich von der Enge unbeantworteter Fragen befreien zu können. „Und dann springen wir“ ist ein Roman über eine junge Frau, die sich vom Schweigen, der Verdrängung in ihrer Familie befreien muss.
Elise stirbt, die Mutter von Rosa. Es war ein Leben, dass immer wieder tauchte. Elise sprang immer wieder, ohne je unten anzukommen. Auch wenn es Phasen des Glücks gab, war das Leben mit der Mutter und die Abwesenheit des Vaters für die junge Rosa ein permanentes Minenfeld, bescherte ihr ein Leben in Ungewissheit, übertrug ihr Verantwortung, die die Kraft eines Kindes, einer Jugendlichen übersteigt. Irgendwann entfloh Rosa ihrer Mutter, zog aus, in ein Wohnheim auf der anderen Seite der Stadt. Einen Abstand, den es brauchte, um vor den Katastrophen der Mutter zu entfliehen.

Man teilt ihr mit, dass die Mutter gestorben ist, nachdem sie an Tuberkulose erkrankte und ins Spital eingeliefert wurde. Obwohl man ihr versicherte, an Tuberkulose würde heute niemand mehr sterben, kam der Anruf dann doch. Mit einem Mal war ihre Mutter weg, unwiederbringlich. Und weil Rosa für die Bestattung ihrer Mutter Geld brauchte, war sie gezwungen, mit ihrem Vater Kontakt aufzunehmen. Einem Vater, der schon lange das Weite gesucht hatte, der wieder heiratete und einen neue Familie gründete, mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte.
Mutter und Vater. So sehr sie sich aber von ihrem „Vater“ distanzierte, so sehr wurde Elise in guten Phasen zu einer Freundin. Immer so lange, bis ein neuer Absturz in den Suff oder sonstige Rauschmittel wieder kappte, was Liebe hätte sein können. Wie damals, als Rosa mit ihrer Mutter nach Mostar reiste, an jenen Ort, an dem schon für die Mutter vor Jahrzehnten etwas zurückgeblieben war, einen Ort, der viel mehr war als das Ziel einer Urlaubsreise. Damals standen Elise und Rosa auf der steinernen Brücke in Mostar und wussten nicht, ob sie gemeinsam springen sollten. Irgendwann sprang die Mutter aber dann doch, wenn auch nicht von der Brücke, sondern in Prag auf einer gemeinsamen Reise, einmal mehr in ihren Suff. Sie verschwand mitten in der Nacht aus dem grossen Bett, um im Bad des Hotelzimmers in ihrem Erbrochenen zu liegen, um Rosa einmal mehr in Todesangst zu versetzen. Damals half man ihr. Damals wurde auch mehr als deutlich, dass Rosa, so sehr sie sich nach Familie sehnte, diese verlassen musste, um wieder atmen zu können.
Aber weder der plötzliche Tod ihrer Mutter noch das eigentlich so freundliche Bemühen ihres Vaters genügen für einen Neuanfang. Rosa spürt, dass sie Spuren aufnehmen muss, von denen sie nicht weiss, wohin sie sie führen werden. Unterstützt von ihrer Freundin Emma unternimmt Rosa Reisen dorthin, wo sie ahnt, dass mehr ist. Zurück nach Mostar, zurück zur Brücke, weil da ein Versprechen war – „und dann springen wir“.
Gianna Langes Roman ist ein Familienroman. Ein Wurzelbuch. In ineinnader verschränkten Zeitebenen erzählt die Autorin routiniert und gekonnt aus einem Leben, das seine Spur sucht. Ohne jede Zuordnung von Gut und Schlecht. So ruhelos das Leben von Elise war, so getrieben und anfällig auf Erschütterungen und Verunsicherungen, so gross ist Roses Sehnsucht nach einem festen Anker. Ein zarter Roman voller Wärme!
Interview
Momentan sind autobiographische oder autofiktionale Bücher angesagt. Ich kenne Leute, die die Qualität ihrer Lektüre nach der „Glaubwürdigkeit“, der „Echtheit“, nach dem „Selbst Erlebten“ messen. Gute Bücher sind jene, die davon triefen. Als ich „Und dann springen wir“ las, war es durchaus die Geschichte, die mich fesseln sollte. Aber wenn eine gute Geschichte gut erzählt ist, wenn die Sprache passt, dann relativiert sich „Echtheit“. Ist es nicht die Fähigkeit zur Empathie, die gutes Erzählen ausmacht?
Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen. Ich bezweifle, dass sich gute Geschichten ohne eine ausreichende Portion Empathie erzählen lassen. Daher freue ich mich auch, wenn Lesende meinem Roman immer wieder unterstellen, autofiktional zu sein. Das ist er nicht, aber ich fasse es als Kompliment auf, denn die Geschichte wurde in diesen Fällen offensichtlich als authentisch empfunden. Und dafür muss man sich, meiner Meinung nach, in seine Figuren hineinversetzen können, verstehen, was sie empfinden und warum. Ich finde auch nicht, dass es unbedingt „leichter“ ist, selbst Erlebtes authentisch zu erzählen. Oft gelingt es mir ganz gut, ich habe mich aber auch bei der einen oder anderen Geschichte zu nah dran gefühlt, um sie zu entwirren. Oder ich stand mir selbst dabei im Weg, mich zurückzuversetzen. Ich denke, das kennen die meisten Menschen, man möchte nicht alles Erlebte ungefiltert noch einmal erleben.

Rosa macht sich auf eine Reise, auf eine innere und eine äussere. Einer der Anlässe, dass sich Rosa aufmacht, ist der Tod ihrer Mutter. Eine Mutter, die für sie fast immer Elise hiess, in guten Phasen mehr Freundin war und in schwierigen ein Alp. Viele Familiengeschichten sind Emanzipationsgeschichten. Und dabei ist Emanzipation viel mehr als Selbst- und Eigenständigkeit. Ist Emanzipation in Ihrem Roman nicht vielmehr das ganz umfassende Bewusstsein, woher man kommt?
Das fasst es sehr schön zusammen! Emanzipation hat ja immer auch damit zu tun, woher man kommt. Was ist das grosse Ganze eigentlich, von dem ich mich da löse? Und wo möchte ich hin? Es ist für mich das Verstehen, quasi das Aufdecken der Richtung, aus der man kommt, um so die Richtung zu bestimmen, in die man möchte. Und nicht womöglich versehentlich genau dort zu landen, wo man eigentlich gar nicht hin wollte. Vielleicht ist später das, wovon man sich unter Anstrengung gelöst hat, dann doch das, was man für sich selbst wählt. Doch ich glaube, die Wahl lässt sich befreiter und selbstbestimmter treffen, wenn ihr eine Emanzipation vorausgegangen ist.
Vieles in Ihrem Roman kann man metaphorisch verstehen. Rosa ist in Bosnien unterwegs; Abseits der Wege herrschte Minengefahr heisst es, als Rosa auf einer ihrer Reise in einem Bus gewarnt wird. Dieser Satz gilt doch auch für ihr eigenes Leben, das sie doch einfach weiterleben könnte, ohne all die Fragen, Konfrontationen, das Suchen. Waren sie sich dieser Metaphern bewusst oder geschehen sie unbewusst?
Das ist bei mir ein Mischverhältnis. Manche Metaphern habe ich beim ersten Tippen der Worte bewusst eingesetzt. Die Teflonpfanne am Anfang des Romans ist so eine, zerkratzte Teflonschichten sind giftig. Das ist die grosse Sorge einer Frau, die aber freiwillig lauter anderes Gift zu sich nimmt. Es gibt aber durchaus auch Metaphern, die mir erst später aufgefallen sind, die dann entweder noch einen Feinschliff verpasst bekommen haben oder rausgeflogen sind, weil sie doch nicht so gut funktioniert haben. Das ist sowohl in der eigenen Überarbeitung als auch später im Lektorat noch vorgekommen. Ich würde behaupten, mehr Metaphern bewusst als unbewusst ins Buch geschrieben zu haben. Ich werde aber auch immer mal wieder von Interpretationen und Eindrücken Lesender überrascht, da offenbaren sich mitunter ganz neue Deutungen. Das finde ich total spannend.
Ein Familienroman darum, weil sich Rosa aus einer schwierigen Familienkonstellation „distanzieren“ will, nicht weil sie das alles nicht mehr will, sondern weil sie einzuordnen versucht, nicht zuletzt die Gründe dafür, dass sich Elise, ihre Mutter, immer wieder in ihren Abstürzen verliert. Auf der einen Seite das hochstilisierte Idyll der Familie, auf der anderen Seite die Realität vieler Abgründe, Zerrüttungen. Warum werden wir derart beherrscht von der Sehnsucht nach Familie und Zugehörigkeit?
Eine Freundin von mir hat mal einen Satz zu mir gesagt, der hängengeblieben ist. Ich sass auf ihrem Sofa, vollkommen überfordert von einem sich anbahnenden Todesfall innerhalb der Familie, und geisselte mich dafür, mit der Situation nicht besser klarzukommen. Für mich hiess „besser“ damals, dass ich es allein verkraften können muss, weil ich ja nun mal erwachsen war. Und meine Freundin sagte: «Also Gianna, der Mensch ist ja nun mal ein soziales Wesen.“ Sie hat danach noch viel mehr kluge Worte gesagt, aber dieser Einstieg bringt es schon so gut auf den Punkt. Das sage ich mir auch heute noch, wenn ich mal wieder meine, ich müsste ganz allein mit allem zurechtkommen. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, vollkommen und immer allein zu sein. Ich bin eher introvertiert und wirklich gern allein, ich brauche das auch, aber genau so brauche ich meine Herzensmenschen, meine Familie, meine Freund*innen, meinen Partner. Und das ist etwas Universelles, wir alle brauchen unsere Netzwerke, in denen wir sicher sind, in denen wir Unterstützung erfahren, wenn wir darum bitten. Ich weiche den Begriff Familie im Buch bewusst etwas auf, weil ich weiss, dass Familie nicht immer die Blutsverwandtschaft ist. Familie ist für mich ein dehnbarer Begriff mit so vielen Facetten, die man zum Glück auch selbst gestalten kann.

Im Titel des Buches steckt ein Versprechen. Die „Alte Brücke“ in Mostar ist nicht nur für Rosa ein Symbol für ein Davor und Danach. In Ihrem Buch erzählen Sie unterschwellig auch vom Bosnienkrieg und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Sie schieben Schicht um Schicht unter die Geschichte, die Sie an der „Oberfläche“ erzählen, tun das sehr gekonnt. Ist da nie die Gefahr, dass man den Bogen überspannt?
Ich würde sagen, die Gefahr ist immer da. Gerade in Bezug auf die noch immer recht junge Vergangenheit der ex-jugoslawischen Länder habe ich den Text wieder und wieder unter die Lupe genommen. Ich selbst habe die Region durch eine ähnliche Brille betrachtet wie Rosa und Elise, nämlich durch eine westeuropäische. Da waren die Schönheit der Orte und der Landschaft, die gastfreundlichen Menschen, aber auch die unübersehbaren Spuren des Krieges. All das sollte mit ins Buch, all dem wollte ich gerecht werden, ohne dabei ein weiteres, west-eurozentrisches Buch über den Osten zu schreiben. Ich bin dafür im Schreibprozess sehr nah an eigens Erlebtem und Beobachtetem geblieben, um im Text dann nah an den Figuren und ihren Erlebnissen und Beobachtungen zu bleiben. Dabei habe ich unweigerlich hier und da den Bogen auch mal überspannt, aber zum Glück wird ein Text ja noch einige Male und von mehreren Augenpaaren genauestens geprüft, bevor er gedruckt wird. So ist mir am Ende hoffentlich gelungen, was ich mir vorgenommen hatte.
Rosas „Vater“ ist nicht zuletzt eine tragische Figur. Mir hat er bei der Lektüre fast Leid getan, tut er doch viel, um Rosa eine Versöhnung anzubieten, nicht nur er, seine ganze Familie. Eines dieser unterschwelligen Themen in ihrem Roman ist die Adoption, ohne dass Sie daraus ein „Thema machen“. Beziehungen zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern bieten viel Angriffsfläche. Allein aus der Beziehung zwischen Rosa und ihm hätte man einen Roman schreiben können. Nähe und Distanz ist nicht nur in der Familie heikel. Gilt das nicht auch fürs Schreiben?
Auch dem würde ich zustimmen und es lässt sich auf so vieles anwenden. Die Nähe und Distanz zu sich selbst beim Schreiben, zum Text, zu den Figuren, zwischen den Figuren. In meinem Fall gehören Schreibblockaden zum Schreiballtag und die haben oft damit zu tun, dass mir die eigene Geschichte an dieser und jener Stelle nicht vertraut genug ist. Ich muss dann meistens erstmal herausfinden, woran es liegt, und dann eintauchen. Das kann eine einzelne Figur sein, dann muss ich die sozusagen besser kennenlernen, oder das Verhältnis zwischen Figuren. Meistens hilft es, in die Tiefe zu gehen und diese Feinheiten aufzuspüren, um die Blockade zu lösen und zu wissen, wohin die Geschichte als nächstes führt. Bei vollkommen fiktionalen Elementen ist es für mich oft die zu grosse Distanz, je mehr selbst Erlebtes mit einfliesst, desto eher erlebe ich wiederum den Effekt, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Den kenne ich aber auch im späteren Verlauf, wenn der Text fertig, mehrfach überarbeitet und schon zigmal gelesen ist. Dann stehe ich auch hin und wieder mal mitten im Wald und sehe ihn nicht. Und dann sind wir wieder beim Fazit der vorigen Antwort, es lesen ja zum Glück noch Andere mit, die das grosse Ganze im Blick haben.
Gianna Lange, geboren 1988 in Bremen, studierte Journalistik und Transnationale Literaturwissenschaft in Bremen und London. Sie ist Gründungsmitglied des ‹Lyrikkollektivs gabrieleschreibtgedichte› sowie des Kollektivs für junge Literatur ‹Kollit‹ und Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift ‹Koller‹. Für die ersten Seiten ihres Manuskripts »Und dann springen wir« erhielt sie das Bremer Autor:innenstipendium vom Bremer Literaturkontor. Die Autorin lebt in Bremen und arbeitet im Konzerthaus ‹Die Glocke› sowie beim ‹Musikfest Bremen›.
Beitragsbild © Franziska Evers