„Rechermacher“ ist ein Roman über vier Generationen, ein ganzes Jahrhundert. Über eine Familie, die es im Krieg zerriss, die bis in die Gegenwart unter dem Schatten einer Vergangenheit im Dunkeln leidet. Hanna Sukare versteht sich nicht als Chronistin, aber mit Sicherheit als Archäologin der Zeit. „Rechenmacher“ ist der Versuch, mit Poesie nach Versöhnung zu suchen.
Was wissen Sie von Ihren Grosseltern? Oder Ihren Urgrosseltern? Wissen Sie mehr als Name und Beruf? Letzthin war ich bei einem Freund, der mir bei meinem Besuch in seinem „Familienhaus“ anhand von Bildern und Gegenständen von seiner Familie bis zurück ins 16. Jahrhundert erzählte. Bestimmt verbergen sich auch hinter den Geschichten seiner langen Ahnenreihe Geheimnisse. Aber wie kein anderes Ereignis zerreisst ein Krieg die glatten Oberflächen der Zeit. So wie sich in den Generationen nach dem 2. Weltkrieg das Schweigen über Familien legte, weil man sich von all dem Schrecken, dem grossen Irrtum lossagen wollte. „Schwamm drüber.“
Maia besucht ihre Mutter. Aber ihre Mutter ist nicht zuhause. Nicht einmal eine Nachricht, ein Zeichen ist zu finden. Nur ein paar Kleider und der Laptop der Mutter fehlen. Nach ersten Sorgen erreicht sie ein Brief ihrer Mutter. Sie habe sich auf eine Reise begeben und wisse nicht, wann sie zurückkommen werde. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Nelli, ihre Mutter, hat sich auf eine Reise begeben, eine doppelte Reise. Eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise an Orte, die ihr etwas zurückgeben sollen von dem, was noch vor ihr verborgen ist, wovon sie spürt, dass es ein Teil ihrer selbst ist, all die Leerstellen, all die Geheimnisse.
„Die Wahrheit ist eine Zumutung.“
Auch Maia macht sich auf die Suche, findet in der Wohnung ihrer Mutter Hinweise darüber, welche Richtung die Mutter bei ihrer Suche nach sich selbst eingeschlagen haben musste. Die Suche nach der Familie Rechermacher, ihrem Vater und ihrem Grossvater, nach Vevi, Nellis Mutter, die ins Wasser ging.
Hanna Sukare schrieb eine Familiengeschichte, aber das nur nebenher. Hanna Sukare schreibt über die Wunden und die Sehnsucht, diese Wunden zu schliessen. Sie schreibt über die Suche all jener Leerstellen und schwarzen Löcher, die bis in die Gegenwart ins Leben nachfolgender Generationen hineinwirken und sie nie so gedeihen und wachsen lassen, wie es ihnen möglich wäre, wären diese Mühlsteine nicht.
Es ist die Geschichte von August Rechermacher, einem ungeliebten Sohn, aufgewachsen während des Säbelrasselns des 1. Weltkriegs. Von einem, der zum blossen Dienen gehalten und erzogen, in der Schule zum dummen August wird. Der in Pferden die einzigen Geschöpfe findet, die etwas zurückgeben, die auf seine Zuwendung, seine Liebe reagieren. Sein Händchen für Pferde bleibt niemandem verborgen. Bei Verwandten wird er Knecht und irgendwann Dragoner mit bunter Uniform und klaren Aufgaben, für die er Anerkennung bekommt, endlich zu einem wird, vor dem er sich selbst nicht mehr zu schämen braucht. August ist angekommen. Er liebt seine Tiere, seine Aufgabe und lernt gar eine junge Frau kennen. Aber in den Vorbereitungen der neuen Machthaber, mit dem Wechsel von den Dragonern zur Wehrmacht, dem bunten Tuch zum grauen Einerlei muss sich August entscheiden. Entweder heiratet er die schwangere Genoveva, Vevi, oder er zieht für seine neuen Herren in den Krieg. August entscheidet sich gegen die Familie, auch gegen das Kind, das seinen Vater nie wirklich kennen lernt.
Was aus August in den Wirren des Krieges wurde, was der Krieg aus dem willigen Diener machte, erzählt „Rechermacher“. Von den nie vernarbten Wunden bis in die Gegenwart. Von der bleiernen Schleppe des Schweigens. „Rechermacher“ ist weder Rache noch Wiedergutmachung. Dieser Roman ist das, was Hanna Sukare mit all ihren Romanen tut: Sie rüttelt wach. Sie mahnt uns, die Geschichte ernst zu nehmen. Sie mahnt uns, unsere Kinder zu denkenden Wesen zu formen, etwas, was im Wort „Er-ziehung“ fehlt.
Hanna Sukare liest aus «Rechenmacher» am Mittwoch, den 11. Januar 2023 im Literarischen Club, Hottingersaal, Gemeindestrasse 54, 8032 Zürich
Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg im Breisgau. Seit ihrer Jugend übt sie meistens in Wien. 2016 wurde der Roman «Staubzunge» mit dem Rauriser Literaturpreis für das beste Debüt in deutscher Sprache ausgezeichnet. Ihr 2018 veröffentlichter Roman «Schwedenreiter» wurde für den Literaturpreis der Europäischen Union 2019 nominiert. Das Buch behandelt Ereignisse zur Zeit des Nationalsozialismus in Goldegg im Pongau.
Beitragsbild © Milan Böhm