Viktor verliert seine Frau bei einem brutalen Überfall. Sie lag zusammengeschlagen auf der Strasse, so wie sein ganzes Leben zusammengeschlagen wurde. Was ihn einigermassen aufrecht hält, ist die Sorge um seinen Sohn Igor. Eine Sorge, die zur Obsession wird. Peter Terrin leuchtet in die abgerückte Welt eines immer zerstörerischer werdenden Irrsinns.
„Blanko“ ist eine Höllenfahrt in die quälenden Ängste eines Vaters, dessen einzige Aufgabe es wird, seinen Sohn vor der Schlechtigkeit der Welt zu retten. Eine nicht zu bremsende Höllenfahrt. Man liest mit Erschütterung, weil der Untergang nicht aufzuhalten ist, weil man den Mann letztlich versteht, weil die Interpretationen des zurückbleibenden Mannes ihm Recht zu geben scheinen, weil wir von all den Müttern und Vätern wissen, die ihre Kinder mit allen Mitteln vor dem allgegenwärtig Bösen dieser verkommenen Welt schützen wollen.
„Blanko“ erzählt aber auch die Geschichte eines Mannes, dessen Wahrnehmung durch eine persönliche Katastrophe aus der Angel gehoben wird und sich ganz neu ausrichtet, der die Welt plötzlich in ganz anderer Perspektive sieht, der nicht mehr an all die Beteuerungen der offiziellen Wahrnehmung glauben will. Wir leben in einer Welt des Rückzugs. Durch die Pandemie noch verstärkt zementiert sich der Mensch in seiner Weltanschauung, die er nur noch mit dem füttert, was er seiner Meinung entsprechend zuträglich findet. Viktor hat mit dem tödlichen Verbrechen an seiner Frau viel mehr verloren als die Ehefrau, seine Liebe und die Mutter seines einzigen Sohnes. Die Tat katapultierte ihn aus seiner Welt, hinein in ein Reduit, das er mit allen möglichen und unmöglichen Massnahmen zu sichern versucht.
Peter Terrin konzentriert sich in seinem beeindruckenden Roman nicht auf die Gründe, wie es zum Verbrechen an seiner Frau kam, noch viel weniger um die Täterschaft. Peter Terrins erzählender Blick fokussiert sich einzig und allein auf das, was mit Viktor passiert, welche Schlüsse der Mann aus der Tat und den Reaktionen der Welt darauf für sein eigenes Leben, seine Zukunft und die seines Jungen zieht.
Viktor, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Gesundheitsministerium, kann wegen eines eingestützten Dachs an seinem Arbeitsplatz im Labor zuhause arbeiten. Was er für seine Untersuchungen braucht, steht zuhause. Und weil er seine Tage selber einteilen kann, begleitet er seinen Sohn zur Schule, holt ihn auch wieder ab und bleibt im Auto sitzen, während Igor in der Schule sitzt. Viktor beobachtet und versteht die Welt nicht mehr, versteht nicht, dass man sich ungehindert Zutritt ins Schulhaus verschaffen kann, dass die ausserschulischen Aktivitäten des Klassenlehrers seines Jungen nicht eingehender unter die Lupe genommen werden, dass man seinen Sohn von der Schule verweist, weil er sich doch nur gewehrt hatte, mit dem Springmesser, das ihm sein Vater zum Geburtstag schenkte – zur Selbstverteidigung.
Igor muss zuhause bleiben. Viktor lässt Gitter vor die Fenster montieren, Frischluftfilter, Panzertüren. Er unterrichtet seinen Sohn bei Tag und wird nachts von üblen Träumen heimgesucht, die ihm wie Spiegelbilder der Welt draussen erscheinen. Einzig seine Schwester bringt ihm ab und an etwas Lebensmittel und kann immer weniger verstehen, was sie zu sehen bekommt. Peter Terrin schlüpft in die Wahrnehmung dieses einsamen Mannes, sieht die Welt durch seine Augen, eine Welt, die mehr und mehr schrumpft und immer dunkler wird. Immer mehr zu einem selbst inszenierten Gefängnis. Aber nicht nur für Viktor, sondern auch für seinen Sohn Igor.
Viktor liebt seinen Sohn. Diese Liebe ist das einzige, das ihm geblieben ist. Eine Liebe, die vernichtend wird. Wer Mut hat, der lese – unbedingt!
Peter Terrin, 1968 im belgischen Tielt geboren, gehört zu den wichtigsten Stimmen der flämischen Literatur. Er veröffentlichte Erzählungen, Theaterstücke und bislang sieben Romane, darunter «Der Wachmann», für den er 2010 den Literaturpreis der Europäischen Union erhielt, und «Post Mortem», der 2012 mit dem AKO-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Seine Werke wurden in über fünfzehn Sprachen übersetzt.
Rainer Kersten, geboren 1964, übersetzt aus dem Niederländischen, u.a. Werke von Tom Lanoye, Dimitri Verhulst und Arnon Grünberg. 2016 wurde er mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
Beitragsbild © Jef Boes