Eine Biografie über den Auschwitz-Lagerarzt Josef Mengele, diesen besessenen „Wissenschaftler“ am Menschen, bräuchte ich nicht zu lesen. Nicht einmal einen Erklärungsversuch darüber, warum sich die Alliierten so wenig erfolgreich darum bemühten, des in Südamerika untergetauchten Mediziners habhaft zu werden. Und trotzdem fasziniert dieses Buch total.
Olivier Guez, der mit dem Drehbuch zum beeindruckenden Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“, zeigte, dass er sich mit einem besonderen Blick auf die Geschichte um Aufarbeitung bemüht, schrieb mit „Das Verschwinden des Josef Mengele“ ein sowohl literarisch wie in seinen historischen Zusammenhängen packendes und aufschlussreiches Buch. „Der Staat gegen Fritz Bauer“ war ein Film über den Kampf eines Frankfurter Generalstaatsanwalt, den Kampf gegen ehemalige Verantwortliche des Naziregimes, wie den Organisator des Holocaust Adolf Eichmann, den Kampf gegen das Vergessen und Verhindern.
Der Roman «Das Verschwinden des Josef Mengele» ist ein Lehrstück eines unbelehrbar Fanatischen, einer Nachkriegszeit, in der die Ideen der nationalsozialistischen Weltherrschaft noch lange munter weiterglimmen und ein Beispiel dafür, wie genügsam Nachkriegsdeutschland, die Alliierten und die Öffentlichkeit waren, nachdem man sich mit den Nürnberger Prozessen der Frage nach der Verantwortung gestellt zu haben schien.
1945, wenige Monate nach dem Krieg, arbeitet Mengele unter falschem Namen auf einem Oberbayrischen Bauernhof und selektioniert Kartoffeln. 1949 reist er in Argentinien ein, im aufstrebenden Land von Joan und Evita Perón und versucht sich mit Hilfe der „Rattenlinien“, ehemaliger Nazigrössen, die sich neu formierten, eine neue Existenz zu schaffen. Später flieht er nach Uruguay, dann nach Brasilien, wo er 1979 durch einen Schlaganfall beim Baden am Meer ertrinkt, 68jährig, 34 Jahre lang untergetaucht und nie vor ein Gericht gestellt.
Der Mann, der direkt oder indirekt verantwortlich war für abertausende von absonderlichen Tötungen im Dienste einer grausamen Ideologie. Der Mann, den die wenigen Überlebenden den «Todesengel von Auschwitz» nannten.
Mengele findet ein Leben lang Gesinnungsgenossen, finanzielle Unterstützung, Menschen, die sich seiner annehmen. Seine im schwäbischen Günzburg tief verankerte Industriellenfamilie unterstützt ihn fleissig, um der Agrartechnikfirma nicht zu schaden (Noch heute liest man auf landwirtschaftlichen Maschinen den Namenszug.) Das Argentinien unter Joan Perón, der auch in Europa im Strahlenmeer seiner zur Legende gewordenen Ehefrau Evita so etwas wie Kultstatus geniesst, war Sammelbecken für all jene entflohenen und untergetauchten Nazis, die es mit Geschick verstanden, sich ihrer Verantwortung zu entziehen oder auch nur den Hauch einer Schuld einzugestehen. Peróns Absicht war es, mit Hilfe all der Militärs, Wissenschaftler und Finanzgrössen Argentinien mit Staudämmen, Raketen und Atomkraftwerken auszurüsten und die USA nach der sicheren Niederlage in einem 3. Weltkrieg als Supermacht abzulösen. Man trifft sich bei Gesinnungsgenossen in grossen Landgütern mit Hitlerbüste im Garten und einem Hakenkreuz aus Granit auf dem Grund des Pools.
Dass es Deutschland mit der konsequenten Aufarbeitung auch 10 Jahre nach dem Krieg nicht allzu ernst war, zeigt die Tatsache, dass 1956 das westdeutsche Konsulat in Buenos Aires Josef Mengele einen Personalausweis und eine Geburtsurkunde ausstellte – ohne irgendwelche Konsequenzen.
Zweifelsohne war Mengele ein Monster. Olivier Guez legt sein Augenmerk aber nicht in erster Linie auf die Gräueltaten «des ehrgeizigen Chirurgen des Volkes, der grossen Hoffnung der Genforschung». Guez interessiert sich ebenso genau für die Umgebung, die es diesem Mann möglich machte, über dreissig Jahre auf der Flucht zu sein und selbst ein Jahr vor seinem Tod beim Aufeinandertreffen mit seinem leiblichen Sohn, der heute als Anwalt in München mit dem Namen sehr Frau lebt, sich weigerte nur ein Fitzelchen eines Irrtums einzugestehen.
Gut, wenn Bücher wie ein solches in Zeiten gelesen werden, in der Mitglieder des deutschen Bundestages Hitler und die Nazis nur als «Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte» bezeichnen. Noch besser, wenn sie gut geschrieben sind, sorgfältig recherchiert, nie mit dem Zeigefinger mahnend. Bis auf den letzten Satz: «Nehmen wir uns in Acht, der Mensch ist ein formbares Geschöpf, nehmen wir uns vor den Menschen in Acht.»
Olivier Guez, 1974 in Straßburg geboren, ist Autor und Journalist. Er arbeitete unter anderem für Le Monde, die New York Times und die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Für das Drehbuch von «Der Staat gegen Fritz Bauer» erhielt er den deutschen Filmpreis. Olivier Guez lebt in Paris.
Übersetzt von Nicola Denis.
Titelfoto: Sandra Kottonau