Ich soll nicht über das Ich schreiben, heisst es da und dort in der Literaturwelt, denn es bedeute Nabelschau. Welches Ich?, frage ich mich, und wer stellt hier die Bedingungen, für wen, wofür und warum?
Ich sitze an der Alten Donau, wie unwienerisch: lautes Froschquaken, Vögel singen; ich höre den Wind in den Bäumen, eine Kettensäge in der Ferne und Autorauschen von der grossen Strasse her, die über den Fluss führt. Dahinter schiessen hochmoderne Wolkenkratzer in die Höhe. Clean wirken sie, als würden sie aus der Erde wachsen, genau wie das Schilf direkt vor mir.
Zurück zum Ich, das mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Zwei junge Frauen, die je einen Kinderwagen vor sich her schieben, spazieren an mir vorbei; ich habe mein Kind zu Hause in St. Gallen gelassen und in den letzten zwei Tagen so wenig gesprochen wie seit mindestens zwei Jahren nicht mehr. Ich gehe alleine der Alten Donau entlang, und am Morgen ging ich auch ganz für mich durch Wiens Strassen und Gassen, am Museumsquartier und an der Hofburg vorbei, an Touristenströmen vorüber und durch sie hindurch.
Ich bin flüssig wie Honig.
Ich rinne vor mich hin, eher dünn- als dickflüssig bei der Hitze, und ich lasse an mir kleben, was mir gefällt, um die Dinge später, wenn ich ein Gegenstück habe, zu verwerten. (Brot für den Honig. Ein menschliches Gegenüber oder einen Stift & ein Stück Papier für das Ich)
Ich zergehe mir selbst im Mund.
Ich schlucke und verdaue all die Wörter, die ich lese.
Das Ich und seine mannigfaltigen Möglichkeiten. Das Ich in seinem Nichts.
Losgelöst von meinem Leben und mitten in ihm – zurück von der Alten Donau in der Wiener Innenstadt – betrete ich das Leopold Museum. Ich betrachte die Bilder von Egon Schiele, wegen derer ich in die Stadt gekommen bin. Hunderte Selbstporträts hat Schiele vor rund hundert Jahren gemalt. Klare Linien zeigen mal einen ganzen Körper, mal nur einen Torso; dürre Beine, schlaffer Penis, lavarote Nippel, aufgerissener Mund, die Stirn in Falten, ein honiggelber Körper. Das Ich als Märtyrer, als Heiliger, als Leidender.
Schiele hat sich nicht festgelegt. Er hat Ich gesagt und Vieles und Nichts gemeint.
Ich richte mich auf. Ich habe Durst. Mein kinderloses Ich steigt die Treppe hoch ins Café Leopold und wirft einen Blick in die Getränkekarte. Als der Kellner vor meinem Tisch stehen bleibt und fragt, was er mir bringen soll, deutet mein Zeigefinger auf „All I Need“. Grüntee belebt.
Laura Vogt, geboren 1989 in der Ostschweiz, absolvierte das Schweizerische Literaturinstitut in Biel. Davor studierte sie fünf Semester Kulturwissenschaften an der Universität Luzern und hielt sich längere Zeit in Uganda, Ägypten und Griechenland auf. Sie schreibt Prosa, lyrische und journalistische Texte und ist zudem als Schriftdolmetscherin tätig. 2016 erschien ihr Debütroman «So einfach war es also zu gehen» (VGS St. Gallen). 2012 war sie Siegerin beim Schreibwettbewerb des Thuner Literaturfestival Literaare, 2014 erhielt sie einen Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung und 2017 einen Werkbeitrag der Stadt St. Gallen.
Im Januar wird das Stück „Die Traumbeschauten“ in der Offenen Kirche, St. Gallen aufgeführt. Laura Vogt schrieb den Text für dieses Musiktheater.