Ein Mann kehrt nach vielen Jahren an jenen Ort zurück, der ihm einmal Heimat war, in dem alle Hoffnung lag, aus der er sich vertreiben liess, der er den Rücken zeigte. Damals lud er sich aus Enttäuschung und Zorn Schuld auf, die er mit in die Ferne genommen hatte. Schuld, die ihn nach vielen Jahren an den Ort der grossen Enttäuschungen zurückführt.
Wenn ein Buch inhaltlich überzeugt, dann freut das den Leser, die Buchhändlerin, den Verlag und den Autor. Aber wenn ein Buch zu einem Gesamtkunstwerk wird, wie das in der Insel-Bücherei-Reihe sehr oft geschieht, dann wird ein Buch zu eine Reliquie, einem heiligen Gegenstand. Dann möchte ich es am liebsten allen, von denen ich weiss, dass ihnen das Buch wie mir etwas Heiliges ist, behutsam in die Hand legen mit dem Wunsch, dafür ein paar absolut ungestörte Stunden in ihrem Leben einzurichten.
Nanne Meyer, eine bildende Künstlerin aus Berlin hat die Erzählung mit Zeichnungen zu einem grossen Ganzen erweitert. Mehr als nur illustriert! Der Erzählung etwas beigefügt, was nicht einmal die Filmmusik beim Film kann. Ein doppelter Genuss. Augenpausen. Ein paar Atemzüge zwischen den Seiten, die den Text regelrecht einkochen. Dabei sind beides schon Substrate, Text und Bild; kein Strich zu viel, reduziert und absolut präzise.
Eine Heimkehrergeschichte. Eine Wintergeschichte. Eine tief verschneite Landschaft irgendwo im Schwarzwald. Ein Dorf am Wald, umgeben von Hügeln. Zwischen den Hügeln Bauernhöfe. Einer davon gehört Sebastian, seinem Bruder, den er schon Jahre nicht mehr gesehen hat, der auch mit Briefen nicht mehr zu erreichen war. Man kennt Manfreds Bruder im Dorf. Ein verschrobener Kerl, der sich nur mehr selten im Dorf blicken lässt. Ein Mann, den das Leben gestraft hat; die Eltern sterben, mit den Tieren auf dem Hof ist ihm das Glück nicht hold und Minna seine Frau wird krank, serbelt langsam weg in den Tod. Sebastian, sein jüngerer Bruder humpelt durch ein missratenes Leben. Kaum Licht auf dem eingeschneiten Hof, keine Spuren im Schnee vor dem Haus, nur ein dünner Rauch aus dem Kamin.
Manfred und Seb waren als Kinder wie Zwillinge. Aber als sie erwachsen wurden, trieben Entscheidungen Keile zwischen das Bruderpaar. Manfred hatte sich als älterer Bruder als Nachfolger auf dem Hof gesehen. Und eigentlich auch Minna, die junge Frau als seine Braut. Seb und Manfred verstanden sich beide gut mit Minna. Und wenn die Eltern damals entschieden hätte, wie Manfred erwartet hatte, wäre die ganze Katastrophe nicht passiert. Das Leid, das damals seinen Anfang nahm und auch nicht endete, als Manfred sich ins Ausland absetzte.
Manfred kehrt zurück, er der Versehrte in eine versehrte Landschaft, zugedeckt mit einer kalten Schicht unschuldigem Weiss. Er mietet sich im einzigen Gasthof ein. Der Wirt kennt ihn, erzählt in Brocken, wovon Manfred ahnt. Er streift durch die Landschaft, erinnert sich an seine Kindheit, die Verbundenheit mit seinem Bruder, den ersten Zwist, die Mutter, die in den stillen Zeiten um Weihnachten und Neujahr ein Summen hörte, die durchs Haus zog und mit Kräuterrauch die Geister aus den Mauern vertrieb. Er erinnert sich an Minna, seine einzige wirklich Liebe, die er durch seinen Zorn und seine Rache verlor, die sich damals für den Bruder entschied, gegen die Liebe, weil Manfreds Zorn auch sie vertrieb.
«Raunächte» ist eine atmosphärisch dichte, ungeheuer empathisch geschriebene Erzählung. 80 gewichtige Seiten, in den Urs Faes beweist, warum ihm Suhrkamp die Ehre erweist, nach «Paris. Eine Liebe» ein zweites Mal eine Erzählung in der edlen Insel-Bücherei-Reihe herauszugeben. Seine Sätze klingen. Es ist, als ob es schneien würde, während man liest. Urs Faes Sprache legt sich wie ein weicher, weisser Mantel um die Schultern des Lesers.
Bruder bleibt man immer, genau wie Sohn, Tochter, Schwester, Mutter oder Vater. Aus Familie steigt man nicht einfach aus. Man wird auch nicht entlassen. Urs Faes stellt jene Fragen, denen sich alle stellen müssen, irgendwann. Wo gehört man hin? Wo hätte man hingehört? Gibt es eine Rückkehr? Kann man Hass tilgen?
Dass auch die Künstlerin Nanne Meyer mit ihren Zeichnungen die genau gleichen Fragen stellen kann, dass sie es schafft, das Gewicht der 80 Seiten zu verdoppeln, erstaunt und freut mich gleichermassen. «Raunächte» ist ein Geschenk! Eine Offenbarung.
Mein Interview mit Urs Faes:
Ich bin von „Raunächte“ tief beeindruckt. Weil die Geschichte eines Heimkehrers stark erzählt ist. Weil die Zeichnungen von Nanne Meyer ihre Erzählung kongenial verstärken, alles andere als ergänzen. Weil ich das Büchlein nach der Lektüre an mein Herz drücke und nicht zulassen werde, dass es so einfach ins Regal geschoben wird. Weil ich es allen schenken möchte, denen Literatur und mehrfach gute Bücher wie mir am Herzen liegen! Wie kamen die Künstlerin Nanne Meyer und der Schriftsteller Urs Faes für dieses Buch zusammen?
Ich stiess vor ein paar Jahren in einer Zürcher Galerie auf Zeichnungen von Nanne Meyer, die durch grosse Eigenständigkeit, einen leisen Humor und einen sicher gekonnten Strich auffallen. Ich lernte sie dann in Berlin kennen. Das führte zu einem intensiven Austausch und auch zu einer Zusammenarbeit, zuerst im Band «Paris. Eine Liebe»; auch das Umschlagbild von «Halt auf Verlangen» ist von ihr und jetzt wieder die Zeichnungen zu «Raunächte».
Jene wichtigen Fragen des Lebens stellen Sie in Ihrer Erzählung ganz offensiv. Es geht um Schuld, um zerstörte Familienbande, um Liebe. Themen, die leicht der Schwere wegen in Schieflache geraten können, die das Erzählen dickflüssig und zäh machen können. Ihnen gelingt eine erstaunliche Leichtigkeit. Ist das die Qualität steigender Lebenserfahrung, dass man sich nicht in übersteigerter Emotionalität verliert?
Das Alter mag zur Gelassenheit beitragen, in meinem Falle hat sicher auch die Krankheit zusätzlich dazu beigetragen, gelassen und behutsam, mit einem Unterton von ironischer Distanz zu erzählen. Ich war zudem immer der Ansicht, dass, in Sprache gebannt, die Schwere des In-der Welt-Seins leicht werden kann, dass ein knappes genaues Schreiben mit offenen Nischen, Emotionen allenfalls entstehen lassen kann, ohne dass sie sprachlich ausgebreitet werden müssen.
Auch wenn die Hügel in „Ihrem“ Schwarzwald tief verschneit sind und man mit den Schuhen bis zu den Knien im Schnee versinkt. Auch wenn lange Spaziergänge, Wanderungen auf der Suche nach einer verlorenen Vergangenheit wegen der Kälte nicht ungefährlich sein können, schaffen sie es, Wärme zu erzeugen, erzeugen Sie erstaunliche Nähe, ohne voyeuristisch oder nur annähernd in sentimental zu werden. Es muss wohl so gewesen sein, dass sie einen Winter im Schwarzwald verbrachten.
«Ich habe die letzten Jahre viel im Schwarzwald verbracht, besonders aber im Herbst und Winter 17, auch als Rückzug aus einer dumpf kalten Oeffentlichkeitsdebatte. So war ich unterwegs im Schwarzwald zwischen Mummelsee und Kinzigtal. Aber auch in den Vogesen zwischen dem Odilienberg und dem Steintal, lernte Nebel, Dunkelbolde und Tobel kennen, aber auch den Wind in den dunklen Tannen, Licht- und Sonnenfäden, die überraschend einfallen.»
Manfred wandert und wandelt durch eine Landschaft, aber auch durch die Zeit. Eine Landschaft, der die Geschichte Namen gab; Stollengrund, Schorfen, Flackwald, Mühlstein… Ihnen haben es Flurnamen ganz offensichtlich angetan, weil jeder Name eine Geschichte erzählt. Wo lag der Anfang dieser Geschichte?
Die Namen tragen nicht nur Geschichten mit sich, sie haben auch einen Klang, eine leise Poesie. So liegt denn auch der Anfang dieser Erzählung draussen, in Nebel und Bäumen, das bezeugt eine Tagebuch-Notiz vom Dezember 16: Ich war mit jener Lucie unterwegs, der das Buch auch gewidmet ist, in den Sonnenuntergang, diesem Lichtgeflimmer zwischen Stämmen und Zweigen, in die Dämmerung hinein. Und langsam krochen die Nebel aus dem Tal herauf, die Nacht, setzte das Knarzen im Holz, das Sirren in den Zweigen ein. Da war auch der Ruf eines Käuzchens zu hören. Jetzt beginnen die Raunächte, sagte sie, erzählte, führte mich in unzähligen Gängen ins Hamersbachtal und zum Vogt auf Mühlstein, zur Berglekapelle und zur Teufelskanzlei, in Wälder, Sagen und Mythen, wo Kobolde sich lösten, aber auch Silben und Worte, die ins Erzählen führten.
„Raunächte“ ist eine Familiengeschichte. Darüber, dass man ihr auch durch Flucht nicht entrinnen kann. Darüber, dass irgendwann die Spiesse drehen, dass Zorn, Wut und Rache zurückschlagen, irgendwann zwingen, einen Versuch der Ordnung zu wagen, auch wenn nur noch Trümmer stehen. Steckt irgendwo in Ihrer Erzählung eine Hoffnung? Oder gar eine Mission? Eine Angst?
Es gehört zu unseren Bestimmungen in eine Familie hineingeboren und durch sie auch in seinem Gang und Verhalten bestimmt zu werden. Das sind Erfahrungen, die sich erzählerisch immer wieder melden. Botschaften hat der Erzähler nicht, eine Mission, ausser der des Erzählens, schon gar nicht. Sein Schreiben ist allenfalls, wie es Johannes Bobrowski einmal sagte, ein Benennen auf Hoffnung hin. Das entspricht vielleicht dem Licht, das dem Gehenden zwischen den dunklen Tannen immer wieder unvermittelt aufscheint, in die Lichtungen fällt, die Ebenen erhellt, dem, was im Klang der Sprache sich lösen kann, in einem Rhythmus, der über den Satz hinauszuklingen, nachzuhallen vermag.
Meinen Dank an Urs Faes!
Urs Faes, 1947 geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schweizerischen Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. Sein Roman «Paarbildung» stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis.
Nanne Meyer, 1953 in Hamburg geboren, Studium an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, 1994 – 2016 Professorin an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee, lebt in Berlin.
Webseite der Künstlerin Nanne Meyer
literaturblatt.ch dankt Nanne Meyer und dem Suhrkamp Verlag für die Erlaubnis, die Bilder der Künstlerin einzubetten.