St. Galler Literaturtage WORTLAUT, 30.3 bis 2.4.2017

Es ist angerichtet! Frédéric Zwicker liest am Donnerstag, den 30. März mit seinem Roman «Hier können sie im Kreis gehen» um 19.30 Uhr als Prologlesung im Kulturforum Amriswil. Am Freitag die offizielle «Eröffnung» in der Hauptpost St. Gallen, im Raum für Literatur, mit Max Küng und seinem ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochenen Roman «Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück» – und Samstag/Sonntag mit vielen weiteren literarischen und künstlerischen Höhepunkten.

6 1/2 Jahre dauerte die Entstehungsgeschichte des Erstlings von Frédéric Zwicker «Hier können sie im Kreis gehen». Bis sich mit dem Verlag «Nagel & Kimche» ein renommierter Verlag fand, der das Abenteuer zusammen mit dem Autor einging. Frédéric Zwicker erzählt die Geschichte vom 91jährigen Johannes Kehr, einem Misanthrop, der sich im Pflegeheim hinter einer vorgetäuschten Demenz versteckt. Kehr hat genug von all den Oberflächlichkeiten, ist eigentlich bloss zu feige, seinem Leben ein abruptes Ende zu setzen. So ist das Ende ein langes Ende, ein letztes unbestimmtes Kapitel hinter einem Vorhang, in einem Versteck. Frédéric Zwicker zeigt sich erstaunt darüber, wie gut sich das Buch vermarkten lässt. Mag sein, dass sie humorvoll ist. Aber die Geschichte ist Frédéric Zwickers ganzer Ernst. 2004 absolvierte er einen mehrmonatigen Zivildienst in einem Pflegeheim. Nachdem er aber immer ganuer wusste wovon er schreiben wollte, schnupperte er noch einmal undercover in einer Demenzabteilung. Johannes Kehrs Biografie ist eine tragische; eine schwierige Kindheit, gross geworden mit vielen Enttäuschungen. Demenz vorspielend erinnert er sich an seine Geschichte durch ein ganzes Jahrhundert, geboren am Tag, als in der Schweiz der letzte Bär erschossen wurde, verbittert und geschlagen vom Schicksal. Schonungslos und doch respektvoll geschrieben bestätigt von Reaktionen von Fachleuten und überzeugt davon, ein wichtiges Thema angesprochen zu haben. Jeder Dritte muss im Alter mit einer Demenz rechnen. Folglich müsste das Thema genug Relevanz für jeden besitzen. Eigentlich unmöglich, sich diesem Thema zu verschliessen.

Kommen sie zur Lesung im Kulturforum Amriswil! Ein gutes Buch, ein interessanter Autor, der etwas zu erzählen hat und ein Gespräch über ein Thema, dass sie bewegen wird. Moderation: Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch!

Neben grossen Namen wie Jonas Lüscher, Sabine Gruber, Jaroslav Rudiš, Nora Gomringer und den Heimspielen vom Slamer Renato Kaiser und Salzburger-Stier-Preisträger Manuel Stahlberger lassen sich auch Entdeckungen machen. Zum Beispiel der Lyriker Nico Bleutge mit seinem bei C. H. Beck frisch erschienenen Gedichtband «nacht leuchten die schiffe» und die junge Österreicherin Anna Widenholzer mit ihrem zweiten Roman «Weshalb die Herren Seesterne tragen», der der Frage nachgeht, was richtig und was falsch ist. Ein Roman, der von der Presse und Kritik begeistert aufgenommen wurde.

Neben traditionellen Lesungen, Büchertischen, Gesprächen über die Grenzen des Schreibens, Poetry Slam, Spoken-Word-Lyrik zeigen auch Zeichnerinnen und Zeichner ihre Werke; Kati Rickenbach ich und Daniel Bosshart, Flurin Von Salis, Anna Haifisch und Nicolas Mahler.

Seien sie dabei! «Die Stadt feiert Wortlaut. Ein literarisches Fest, das seinesgleichen sucht und mit der neunten Austragung bereits weit über die Region hinausstrahlt.»

Frédéric Zwicker «Hier können sie im Kreis gehen», Nagel & Kimche

«Ich habe mir erlaubt, meine Zügel ein letztes Mal zu greifen. Und um sicherzugehen, dass mir niemand meinen Gaul lahm- oder meinen Hintern weichreden konnte, habe ich gesattelt, ohne jemandem davon zu erzählen, und bin in eine Richtung geritten, in die mir niemand folgen kann.»

In Deutschland leben in mehr als 13000 Pflegeeinrichtungen Millionen Pflegebedürftige, Menschen, für die es in unseren Breiten unausweichlich scheint, sie in diesen Bahnhöfen zur letzten Reise zu sammeln. Grauzonen, oftmals schwarze Löcher, vor denen man sich ein Leben lang tunlichst fernhält, bis die Konfrontation mit einer solchen Institution unausweichlich ist.

Womit Christoph Simon 2011 in seinem wunderschön glänzenden Roman «Spaziergänger Zbinden» (Bilger Verlag) ein liebevoll, witzig-kritisches Licht hinter die für viele unbekannten Mauern brachte, kann Frédéric Zwicker mit seinem Roman «Hier können sie im Kreis gehen» noch um mehr als eine Komponente bereichern. Johannes Kehr ist 91. Und weil es irgendwann sowieso soweit sein wird, versteckt sich Kehr hinter einer vorgespielten Demenz in einem Pflegeheim der Stadt. «Ich habe das Gericht durch die Hintertür verlassen.» Nachdem ihm der Tod seinen Sohn, seine Frau und seinen Freund nahm und er dem verbleibenden Rest der Familie nicht zur Last fallen will, verkriecht er sich hinter seinem selbst gewählten Vorhang. Eine letzte Inszenierung, die gar nicht Zwicker_Kreis_gehen_125x205_HCSU_P06DEF.inddso leicht zu spielen ist, akribische Vorbereitungen verlangte und keinen Fehler erlaubt. Endlich im Einzelzimmer in Ruhe gelassen kommentiert Kehr seine meist unfreiwillig mehr oder weniger anwesenden Mitbewohner und erzählt in kleinen Stücken die Geschichte seines Lebens. Als Waise ungeliebt bei Verwandten aufgewachsen hilft ihm der Zufall, aus den Mühlen von Armut, Stigmatisierung und Einsamkeit zu entfliehen. Er rettet das Leben eines Ertrinkenden, dessen Familie ihn am Ertrinken in seinem Unglück rettet. Er kämpft sich hoch, trotz einer verweigerten und nie überwundenen Liebe, durch ein Leben voller Arbeit und Pflichterfüllung, bis ihm am Ende nur noch Sophie bleibt, seine Enkelin. Aber auch Sophie weiht er nicht ein in seinen letzten Protest, seine Flucht nach innen. Ihr, ihrem Foto im Zimmer auf der Etage, erzählt er, ihr und dem Kater, einem Tier, das sich auch nicht einsperren lässt. «Am Ende bliebst mir nur du, Sophie. Aber ich hätte dir nicht so lange bleiben dürfen. Ich beklage mich nicht, aber das Leben hat mich abgenützt, hat seine Narben hinterlassen. Am Ende war es auch für mich zu viel. Ich habe die Kraft verloren, mich zu wehren. Ich wusste nicht mehr, wozu ich mich noch wehren sollte. Und ich sah keinen Ausweg. Ausser diesem hier.»

«Hier können sie im Kreis gehen» ist aber viel mehr als eine Sammlung von skurrilen Geschichten, auch kein abstruser Greisen-Abenteuerroman, kein Kasperletheater, das nichts zum Verständnis jenes Lebensabschnitts beiträgt, den wir geflissentlich vor uns herschieben. Zwickers Sicht auf den ganz eigenen Kosmos eines Pflegeheims ist offensichtlich nicht eine von aussen. Sorgfältig recherchiert (Frédéric Zwicker leistete seinen Zivildienst in einem Pflegeheim.) hadert der Autor mit einer Gesellschaft, die solche Einrichtungen in dieser Form nötig macht, ebenso mit der Gleichgültigkeit dem letzten Abschnitt des Lebens, dem Sterben, dem Tod gegenüber, der Tatsache, dass viele so tun, als gäbe es dieses Ende so nicht. «Es gelingt ihnen, nicht an den Tod zu denken, bis er vor der Tür steht und nicht mehr aufhört zu klopfen, bis sie ihm öffnen. Die Lebenden fürchten sich erst vor ihm, wenn sie seinen Atem im Genick spüren, wenn er ihnen auf den Rücken gesprungen ist und sich von ihnen herumtragen lässt.» Dass mir dieser Blick hinter die Mauern zuweilen weh tut, ist unvermeidlich und tut Buch und Thema gut.
Frédéric Zwicker ist jung, arbeitet als Redaktor beim St. Galler Kulturmagazin «Saiten». Zu hoffen ist, dass da noch mehr kommt. Ich freue mich schon jetzt.

zwicker_frederic_hf_iFrédéric Zwicker, wurde 1983 in Lausanne geboren und wuchs in Rapperswil-Jona am Zürichsee auf, wo er heute wieder lebt. Während seines Studiums der Germanistik, Geschichte und Philosophie trat er regelmässig an Poetry Slams auf. 2006 gründete er mit dem Jazzmusiker Matthias Tschopp die Band Knuts Koffer, die seine Texte musikalisch umsetzt. Zwicker arbeitete als Werbetexter, Journalist, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, als Moderator von Lesungen, Musiklehrer und Leiter von Literaturworkshops an Schulen. Während einer Afrikareise schrieb er für die Zeitung Südostschweiz den Blog „Zu Tee bei Mutter Afrika“.

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Molly Brodak «Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank», Nagel & Kimche

Molly Brodaks Buch ist kein Roman, aber ein gut geschriebener Bericht über eine junge Frau, die die Tochter eines Bankräubers ist, darüber, was Eltern mit ihrem Leben bei ihren Kindern anrichten. Lesbar macht das Buch die Distanz, mit der die junge Amerikanerin schreibt und sich dabei weit mehr als nur Gedanken über ihr schwieriges Band zu einem fremden Vater macht.

«Ich weiss nicht, ob er ein Soziopath ist. Ich weiss nur, dass er in allem betrogen hat. Er log jeden an, hielt uns immer fern und widersetzte sich jeder normalen zivilisatorischen Struktur: Arbeit, Familie, Unterhaltung, Ökonomie, Liebe. Wenn er wirklich dachte, er käme mit seinen ganzen Betrügereien, seinem lebenslangen Lügen durch – und anfangs sah es ja durchaus danach aus – , dann ja, dann hat sein Denken etwas beharrlich Verrücktes. Aber wenn er alles im Wissen um die Konsequenzen tat und sich bewusst war, wen und was er alles verlieren würde, und dennoch weitermachte – dann sieht das nach etwas anderem aus – nach echtem Unheil.»
Ein Stück «american history», von Menschen, die nie ankommen, dauernd getrieben sind, der amerikanischen Seele, die trotz Therapeuten im Wohnzimmer und dem Gefühl, am Nabel der Welt zu leben, kein Zuhause finden. Molly Brodak schildert den Schrei, ihren langen Schrei aus ihrem Innern: «Nichts kann mir etwas anhaben, weder die Ignoranz des Vaters noch die tiefen Stürze der Mutter.»
Warum soll man dieses Buch lesen? Weil es der Autorin gelingt mit ungewohnter Distanz auf das zu sehen, was ihr in ihrer Familie, ihrer Einsamkeit widerfuhr. Wenn ein Vater nicht nur das Geld aus der Sparbüchse seiner Kinder klaut, sondern damit auch das Urvertrauen in eine Welt, die auf gegenseitigem Respekt ruhen sollte. Eine Tochter, die sich an einen verlorenen Vater herantastet.

brodak_molly_hf_iMolly Brodak, wurde 1980 in Michigan geboren und lebt heute in Georgia, wo sie an der Augusta University Englische Literatur unterrichtet. Bislang veröffentliche sie Gedichte in literarischen Periodika und in der Presse. 2009 erhielt sie für ihren Lyrikband A Little Middle of the Night den Iowa Poetry Price.

Marjaleena Lembcke «Wir bleiben nicht lange», Nagel & Kimche

«Weisst du, manchmal komme ich mir vor, als hätte ich mein Leben lang Aufnahmen gemacht, aber die Negative nie entwickelt. Und jetzt sitze ich in der Dunkelkammer und warte darauf, dass die Bilder sichtbar werden, und habe doch Angst vor den fertigen Fotos.»

Letzthin besuchte ich wieder einmal die Buchhandlung zur Rose in St. Gallen, in Sichtweite der mächtigen Klosterkirche. Nicht weil es mir an Lesestoff mangelte (In meiner Tasche wartete «Herzvirus» von Bettina Spoerri mit den letzten Seiten.), sondern weil es Leonie Schwendimann dort in der kleinen, aber feinen Buchhandlung versteht, auch einen Vielleser wie mich auf besondere Bücher aufmerksam zu machen. Diesmal das neue einer Frau, die seit Jahrzehnten deutsch schreibt, in ihrem Innern aber noch immer Finnland und das Finnische mitschwingen lässt. «Wir bleiben nicht lange» ist nicht ihr erster Roman für Erwachsene, aber mit Sicherheit endlich Grund genug, Marjaleena Lembcke zu entdecken.

Sisko, krebskrank und mit Metastasen im ganzen Körper, ruft ihre Schwester Mirja zu sich nach London ins Krankenhaus. Die beiden Schwestern wuchsen in Finnland auf, entfernten sich aber nicht nur geographisch und nicht nicht nur von Finnland, als ihre Mutter den Freitod wählte. Sikso will nicht alleine sterben, oder zumindest nicht das letzte Stück alleine sein. Die Schwestern verbringen viel Zeit, Sisko mit einem Beutel, in dem Wodka und Zigaretten verstaut sind und Mirja mit der Angst, Sisko im falschen Moment alleine zu lassen. Sie erzählen einander, witzeln und beissen mit Worten, trösten sich gegenseitig, jede für die Verluste der anderen. «Man verpasst das Leben sowieso. Ewig auf der Suche nach einer Hand, an der man sich festhalten kann.» Und weil beider Leben mit dem Tod ihrer Mutter jene Wendung bekam, ab der Ängste sie permanent begleiteten, schienen auch alle anderen Lieben permanent von Verlust bedroht zu sein.
Marjleena Lembcke schrieb über den Abschied, das Ende, über jene Momente, in denen es keine Zukunft mehr gibt, über zwei Schwester, die sich angesichts des Todes noch einmal ganz nahe kommen, nicht weinerlich, sondern mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. Auch ein Buch über Bücher; «In Büchern gab es Orte, von denen sie noch nie gehört, die sie nicht gesehen hatte, vielleicht nie sehen würde. Bücher waren der Ort, wo sie einige Zeit unerreichbar und geschützt war.», und über die Lüge des In-Würde-Sterbens. So sehr Mirja Bücher liebt, so sehr verachtet sie Sisko. Sie habe keine Lust, sich in Scheinwelten zu verstecken. Sisko will keine Scheinwelt mehr, kein Blatt mehr vor den Mund nehmen, erst recht nicht, um ihren Wodkaatem zu verbergen. «Ich will meinen Tod nicht bei vollem Bewusstsein mitkriegen. Die Hälfte des Lebens habe ich nur benebelt ertragen. Glaubst du, ich hätte Lust, beim Sterben die Heldin zu spielen?»
Die beiden Frauen geraten sich beim Resümieren über Leben, Liebe, Familie, Männer und den Tod in eine Nähe, die alles auftut, in allem versöhnt.
Marjaleena Lembcke: «Ich glaube nicht, dass man jemanden wirklich beim Sterben begleiten kann. Es sei denn, man stirbt mit ihm.»

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Marjaleena Lembcke wurde 1945 in Finnland geboren und studierte Theaterwissenschaften und Bildhauerei. Seit 1967 lebt sie in der Nähe von Münster in Westfalen. Sie schreibt für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene. Für ihre Bücher wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 1999, und wurde nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis.