Alessandro Baricco «Mr. Gwyn», Hoffmann und Campe

«Wir sind alle ein paar Seiten in einem Buch. Doch es ist ein Buch, das niemand geschrieben hat und das wir in den Regalen unseres Geistes vergeblich suchen. Ich versuche dieses Buch für Menschen zu schreiben, die zu mir kommen. Die richtigen Seiten in diesem Buch.» Mr. Gwyn

Es überkommt Mr. Gwyn ganz plötzlich, die Erkenntnis, «dass das, womit er sich jeden Tag beschäftigt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, nicht mehr zu ihm passt.» Er veröffentlicht als letztes in Zeitungen eine Liste mit 52 Dingen, die er nie mehr zu tun beabsichtigt, darunter an letzter Stelle «Bücher schreiben». Was anfangs wie ein PR-Gag aufgenommen wird, ist für Mr. Gwyn der Beginn einer langen Suche. Genau den Nerv der Zeit treffend, wo das Thema in Kultur und Gesellschaft omnipräsent ist; der Wunsch nach Ausstieg, Wendung, Bruch, nach Veränderung und neuen, «wahrhaftigeren» Aufgaben. Mr. Gwyn will nicht mehr schreiben, schon gar keine Romane, entschliesst sich aber zu «kopieren» – als Kopist wie ein Maler in Worten Portraits anzufertigen, aber nicht für die Allgemeinheit, sondern nur für die eine Person, die sich «erkennen» lässt. Eine ganze Reihe Männer und Frauen leben über Tage nackt in einem von Mr. Gwyn gemieteten und spärlich eingerichteten Atelier, stehen Modell, während Mr. Gwyn schaut und skizziert. Schlussendlich übergibt er die Portraits seinen Kunden, von denen einer sagt: «… da gab es eine Landschaft und ich bin diese Landschaft. Ich bin die ganze Geschichte, ich bin der Ton dieser Geschichte, ihr Tempo, ihre Atmosphäre und jede Figur in dieser Geschichte, aber mit erschütternder Genauigkeit bin ich sogar diese Landschaft, ich bin es immer gewesen und werde es immer sein.»

Auch Alessandro Bariccos Romane sind nicht fotographisches Abbild der Wirklichkeit, sind viel mehr als bloss Geschichten. Das Geschehen wirkt traumhaft, zuweilen verklärt, das Thema aber ist nahe an der Realität: Sinnkrise und -suche. Baricco spart nicht an pastellfarbenen Einsichten. Aber so wie er seine Romane spinnt und konstruiert, erträgt es das verträumte Philosophieren, so wie seine Bilder einer überzeichneten Wirklichkeit entspringen.

Ein zauberhaftes Buch!