In Diskussionen darüber, was Literatur darf, soll oder muss, wird schnell diametral verschieben argumentiert. Den einen soll Literatur nicht mehr als gute Unterhaltung bieten. Andere müssen Resonanz spüren, nicht nur inhaltlich und thematisch, sondern auch im Sound der Sprache. Und wieder anderen genügt eine Literatur ohne unterlegte Mission nicht.
Thomas Sandoz› schmaler Roman will mit Sicherheit mehr als blosse Unterhaltung liefern. Im Gegenteil; Leserinnen und Lesern, die Bücher nur zur Zerstreuung brauchen, würde ich diese Buch nicht empfehlen. Es wäre schlicht zu schade dafür.
Dann schon eher der Geniesserin, dem Geniesser. Jenen, die spüren wollen, wie Sprache hinausträgt, weit mehr als Informationsträger sein kann, sondern Medium, Instrument, das Nachhall erzeugen will.
Aber noch viel deutlicher jenen, für die Literatur auch ein Kampfmittel, eine Form der Auseinandersetzung, ein Infrage-stellen ist. Thomas Sandoz nimmt sich den «kleinen Leuten» an, jenen, denen die Stimme genommen wurde oder die sie verloren. «Ruhe sanft» ist ein Mahnmal gegen eine blank polierte Welt, die sich der Funktionalität und Rentabilität verkauft hat. In der es weder für Langsamkeit noch für Innigkeit, weder für Hingabe noch für Eigenwilligkeit Platz hat. Schon gar nicht für Schrullen.
Schon lange arbeitet er als einer der Gärtner auf dem städtischen Friedhof. Wenn Pause ist, duckt er sich weg, macht sich lieber unsichtbar oder bleibt noch lieber dort, wo er hingehört; in den Teil des Friedhofs, wo die Kinder liegen, zu den Kindergräbern, seinen Kindern. Morgens ist er der erste, abends der letzte. Die kleine Wohnung nicht weit vom Friedhof ist karg eingerichtet, mehr Höhle als Wohnung.
Für eine eigene Familie hat es nie gereicht. Vielleicht deshalb, weil er das Trauma einer schwierigen Kindheit ein Leben lang wie einen Alp mit sich herumschleppt. Weil ihn die Bilder aus jener Zeit auch im Alter nicht loslassen. Weil er nie aus seinem Schweigen herausfand. So wie ihn die Schicksale der verstorbenen Kinder nicht loslassen, die Geschichten, die er sich zusammenreimt, die den Kindern eine Vergangenheit schenken, die erklärbar machen, warum man sie auf dem Friedhof vergessen hat. Er macht seinen Kindern Geschenke, bemüht sich viel mehr als nur um die Bepflanzung, das Kreuz, den Grabstein und den Weg dorthin. Er gibt den Kindern Namen; Primel, Forsythie, Hyazinthe, Pfingstrose oder Anemone. Er redet zu ihnen, leistet ihnen Gesellschaft, ist ihnen Behüter und Vater.
Die anderen auf dem Friedhof nehmen seine Schrullen, seine Eigenarten zur Kenntnis. Er ist längst zum Inventar geworden, einem Stück des Friedhofs. Aber auch auf dieser Ruhestätte macht Modernismus, Fortschritt und Reform keine Ausnahme. Männer mit Plänen, Klemmbrettern und Messbändern machen sich zu schaffen und er macht sich Sorgen um seine Familie, all die Kinder, die nicht nur ihr Leben verloren , aber durch sein Tun etwas von dem zurückbekommen, was dem Verschwinden droht.
Er versteht die Welt nur schwer, kann sie nicht mehr lesen. Sein Blick ist düster, alles bedroht von Niedergang und Zerstörung. Er versteht weder den Einsatz von Gift gegen Unkraut, noch das geschäftig Tun der Friedhofsleitung. Die Menschen schon gar nicht, die Jungen überhaupt nicht. Dafür umso mehr die Stimmen seiner Kinder in seinem Geviert, jenen, die man seiner Obhut übergab. Aber jetzt, wo Inspekteure und Bürohengste Sanierungen, Restaurierungen und Umfunktionierungen androhen, zwingt es ihn, einen lange gehegten Plan in die Tat umzusetzen. Er kauft ein altes Haus mit Grundstück, einen Ort, an dem er seinem Kindergarten eine neue Heimat geben wird.
Thomas Sandoz erzählt die Geschichte von jemandem, den man nicht mehr braucht, den die Gegenwart und die Zukunft erst recht vergessen hat, der einen stillen, zornigen, verbissenen Kampf austrägt gegen einen Feind, der in allem zu stecken scheint. Einen Kampf, der ihn nahe an den Rand des Abgrunds führt, der es aber in seiner Selbstvergessenheit gar nicht merkt, wie sehr die Blicke um ihn herum zu Geschossen werden.
«Ruhe sanft» gilt nicht für den Protagonisten, nur für jedes einzelne der Kinder, die dort begraben liegen.
Ein zorniges Buch, eine Innenansicht eines Verschlossenen.
Thomas Sandoz lebt im Kanton Neuenburg und hat Prosa, Essays und Monographien veröffentlicht und dafür diverse Auszeichnungen erhalten. Insbesondere 2011 den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für «Même en terre» (Grasset). Die zuletzt erschienenen Titel sind «Les temps ébréchés» (Grasset, 2013), «Malenfance» (Grasset, 2014), «Croix de bois, croix de fer» (Grasset, 2016), «La balade des perdus» (Grasset, 2018).
Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit an «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen.
Beitragsbild © Sandra Kottonau