«Weisst du, manchmal komme ich mir vor, als hätte ich mein Leben lang Aufnahmen gemacht, aber die Negative nie entwickelt. Und jetzt sitze ich in der Dunkelkammer und warte darauf, dass die Bilder sichtbar werden, und habe doch Angst vor den fertigen Fotos.»
Letzthin besuchte ich wieder einmal die Buchhandlung zur Rose in St. Gallen, in Sichtweite der mächtigen Klosterkirche. Nicht weil es mir an Lesestoff mangelte (In meiner Tasche wartete «Herzvirus» von Bettina Spoerri mit den letzten Seiten.), sondern weil es Leonie Schwendimann dort in der kleinen, aber feinen Buchhandlung versteht, auch einen Vielleser wie mich auf besondere Bücher aufmerksam zu machen. Diesmal das neue einer Frau, die seit Jahrzehnten deutsch schreibt, in ihrem Innern aber noch immer Finnland und das Finnische mitschwingen lässt. «Wir bleiben nicht lange» ist nicht ihr erster Roman für Erwachsene, aber mit Sicherheit endlich Grund genug, Marjaleena Lembcke zu entdecken.
Sisko, krebskrank und mit Metastasen im ganzen Körper, ruft ihre Schwester Mirja zu sich nach London ins Krankenhaus. Die beiden Schwestern wuchsen in Finnland auf, entfernten sich aber nicht nur geographisch und nicht nicht nur von Finnland, als ihre Mutter den Freitod wählte. Sikso will nicht alleine sterben, oder zumindest nicht das letzte Stück alleine sein. Die Schwestern verbringen viel Zeit, Sisko mit einem Beutel, in dem Wodka und Zigaretten verstaut sind und Mirja mit der Angst, Sisko im falschen Moment alleine zu lassen. Sie erzählen einander, witzeln und beissen mit Worten, trösten sich gegenseitig, jede für die Verluste der anderen. «Man verpasst das Leben sowieso. Ewig auf der Suche nach einer Hand, an der man sich festhalten kann.» Und weil beider Leben mit dem Tod ihrer Mutter jene Wendung bekam, ab der Ängste sie permanent begleiteten, schienen auch alle anderen Lieben permanent von Verlust bedroht zu sein.
Marjleena Lembcke schrieb über den Abschied, das Ende, über jene Momente, in denen es keine Zukunft mehr gibt, über zwei Schwester, die sich angesichts des Todes noch einmal ganz nahe kommen, nicht weinerlich, sondern mit einer gehörigen Portion Sarkasmus. Auch ein Buch über Bücher; «In Büchern gab es Orte, von denen sie noch nie gehört, die sie nicht gesehen hatte, vielleicht nie sehen würde. Bücher waren der Ort, wo sie einige Zeit unerreichbar und geschützt war.», und über die Lüge des In-Würde-Sterbens. So sehr Mirja Bücher liebt, so sehr verachtet sie Sisko. Sie habe keine Lust, sich in Scheinwelten zu verstecken. Sisko will keine Scheinwelt mehr, kein Blatt mehr vor den Mund nehmen, erst recht nicht, um ihren Wodkaatem zu verbergen. «Ich will meinen Tod nicht bei vollem Bewusstsein mitkriegen. Die Hälfte des Lebens habe ich nur benebelt ertragen. Glaubst du, ich hätte Lust, beim Sterben die Heldin zu spielen?»
Die beiden Frauen geraten sich beim Resümieren über Leben, Liebe, Familie, Männer und den Tod in eine Nähe, die alles auftut, in allem versöhnt.
Marjaleena Lembcke: «Ich glaube nicht, dass man jemanden wirklich beim Sterben begleiten kann. Es sei denn, man stirbt mit ihm.»
Marjaleena Lembcke wurde 1945 in Finnland geboren und studierte Theaterwissenschaften und Bildhauerei. Seit 1967 lebt sie in der Nähe von Münster in Westfalen. Sie schreibt für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene. Für ihre Bücher wurde sie vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis 1999, und wurde nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis.