Für jede Kunst ein Haus? Bildende Kunst in Museen und Galerien, Musik in Konzerthäusern und Clubs, Theater und Tanz auf Bühnen und Plätzen, Film in Kinos und zuhause, Literatur im Literaturhaus, im kleinen Lesekreis oder für sich, ganz allein. Was ganz zaghaft aufzubrechen beginnt, was viele Kunstschaffende längst auf ihre Fahnen geschrieben haben, die Sparten aufzubrechen und miteinander zu verbinden und zu verweben, manifestiert sich in aller Deutlichkeit am Lyrikfestival Basel.
Ulrike Almut Sandig, vielfach preisgekrönte Lyrikerin und Erzählerin, schon oft zusammen mit MusikerInnen aufgetreten, vertonte ihre Gedichte, ihre Texte zusammen mit der jungen Pamela Méndez, einer jungen, freischaffenden Songwriterin aus dem aargauischen Brugg, die bald ihr drittes Album veröffentlichen wird. Zusammen mit anderen Paarungen traten die beiden am Freitag spät im Sommercasino Basel auf, nachdem sie sich einen Nachmittag zusammen für diesen einen Auftritt vorbereitet hatten. So entstand ein vielschichtiges Klangkunstwerk, eine Performance aus Sound, Text, Stimme, Rhythmus und Gestus, öffnete sich ein weites Feld, dass den Text aus seiner Hülle riss, die Musik den Text dem Boden enthob und in neue Sphären katapultierte. Erfindungsreich und wagemutig, genauso wie politisch und gesellschaftskritisch. Ulrike Almut Sandig relativiert sowohl formal, inhaltlich und performativ die Grenzen traditioneller Lyrik.
Sie fügt sprachliche Netze zusammen, wirft sie aus, nicht um LeserInnen zu gewinnen, sondern in der Hoffnung, dass diese etwas von dem wiedererkennen, was an Verlinkungen in ihren Büchern ausgelegt ist, geheimnisvoll, zahlen- und symbolverliebt. Dichtung sei wohl die mutigste aller Kunstformen, meinte die Autorin, denn keine andere Kunstgattung strecke die Arme so weit auf, um andere Genres einzuladen und mitzunehmen.
Ebenso beeindruckend der Auftritt von Michael Fehr und Manuel Toller, die das Literaturhaus Basel zu einem musikalischen Tollhaus werden liessen. Als hätte Michael Fehr seine Geschichten, Bilder und Texte wie wilde Hunde losgelassen, als hätten die beiden den kratzenden, wütenden Sound eines Tom Waits ins Land hineingelassen, um ihn in helvetischem Grove an den Steilhängen der vaterländischen Widrigkeiten hinaufzupeitschen. Die beiden waren ein wahrhaft hinreissendes Ereignis, so gar nicht das, was man sonst in einem Lyrikfestival vermuten würde.
Preisträgerin des diesjährigen Basler Lyrikpreises 2020 ist die junge Dichterin Eva Maria Leuenberger mit ihrem Debütband «dekarnation», herausgegeben bei Droschl. Alisha Stöcklin und Rudolf Bussmann, beides Mitglieder der Lyrikgruppe Basel, die Festival und Preisvergabe organisiert, priesen in ihrer gemeinsamen Laudatio einen Erstling, der nichts mit Anfängerglück gemein hat, lobten einen sprachlich raffinierten Naturlyrikzyklus über «tal – moor – schlucht – tal», der ebenso viel Reife wie unmittelbare Nähe zu Sprache und Motiv zeigt. Dekarnation als Form der Inkarnation. Dekarnation nicht als das Ende, den blossen Zerfall, sondern den Anfang von etwas Neuem, nicht Schluss, sondern Beginn, losgelöst von der Zeit, nicht eingegrenzt in ein Dasein, ein Leben, sondern kleiner Abschnitt eines Ganzen, eines Kreislaufes. Lyrik, die trotz der Erdigkeit durch Leichtigkeit überzeugt, das scheinbar Dunkle erhellt.
hier ist ein tal
in vorhergesehener form
mit berg und bach und grüner wiese
am rande des baches
am ende der ersten äderung
wächst moos über die steine
zieht flaumig über die ränder hinweg
in diesem tal
lebt niemand mehr und niemand
kennt den weg:
ich wache auf
am rande des baches
und höre das wasser
der mund spricht ein wort
und ordnet es in die hügel ein
am bachufer, die decke aus moos
ich spüre den boden
wie er nachgibt unter mir
der bach, lang und laut,
beachtet mich nicht
hinter dem wasser
die anfänge von licht
splitternd, gehüllt ineinander
wie arme, schlingend
auf der haut perlt das wasser
in tropfen, licht /
darin der himmel ein boden
auf der anderen seite
des wassers
sitzt ein vogel, gefiedert,
blau mit gelb darum
und knickt den kopf:
es ist still
wir sind allein
(Ausschnitt aus „dekarnation“ von Eva Maria Leuenberger, © Droschl, 2019, mit freundlicher Genehmigung des Verlags)
Schlusspunkt in einem äusserst vielfältigen und abwechslungsreichen Programm war die Lyrikerin und Musikerin Lydia Daher, die zusammen mit dem Musiker Hannes Buder erst recht die Grenzen zwischen Musik und Literatur, zwischen Lyrik und Lyrics verwischen will. Sie arbeitet an Schnittstellen, tummelt sich an Genregrenzen, bildende Kunst mit eingeschlossen. Angesprochen, ob den Musik nicht einfach nur untermale oder begleite, meinte Hannes Buder: «Im besten Falle höre ich gut zu.» So wie der Illustrator seine Arbeit längst nicht mehr nur als Bebilderung versteht, will Hannes Buder weder Textmusik noch Hintergrund. Text und Musik als ebenbürtige MitspielerInnen, Fragende und Antwortende.
Ein gelungenes Festivalspektakel trotz des grossen Abwesenden Lutz Seiler! Ein grosses Kompliment an den unermüdlichen Eifer der organisierenden Lyrikgruppe Basel unter ihrer Präsidentin Simone Lappert.
Alle Fotos © Samuel Bramley, Lyrikfestival Basel (Beitragsbild Pamela Méndez und Ulrike Almut Sandig)