Zuerst war da die Zusage der Schriftstellerin Judith Hermann. Diese machte Mut und es wurden daraus die 1. Weinfelder Buchtage 2017. Katharina Alder, Organisatorin und leidenschaftliche Buchhändlerin in Weinfelden, machte das eine schon klar: «Die 1. Weinfelder Buchtage werden nicht die letzten sein!»
Für Katharina Alder sind Bücher mehr als eine Verpflichtung. Erst recht in einer Welt, die sich immer mehr vom Fremden distanzieren, am liebsten mit hohen Mauern abschotten will. Wer liest, muss neugierig sein, auch auf das Fremde. Für Katharina Alder sind Bücher ein Teil ihrer grossen Leidenschaft, die sich nicht nur in ihrer Buchhandlung Klappentext mitten in Weinfelden zeigt. Sie will sie hinaustragen, zusammen mit einem Team, zusammen mit Autorinnen und Autoren wie dem Urweinfelder Peter Stamm und den weit gereisten Judith Hermann, Takis Würger, Lukas Hartmann, Christoph Poschenrieder, Tim Krohn und anderen.

Judith Hermann reiste mit dem Zug von Berlin nach Weinfelden, weil auf dem Berliner Flughafen das Bodenpersonal streikte. Damit wurde die Reise länger als geplant, beinahe episch. Aber sie war da, hinter einem kleinen Tisch im Rampenlicht, im edlen Rathaussaal zu Weinfelden und machte schon einmal klar, nur lesen wolle sie nicht, es müsse ein Gespräch sein. Nur schon weil es Geschichten sind, die man nicht einfach hintereinander vorlesen kann. Zu allem entschlossen, selbst in der tiefsten Provinz, die sich dann aber erstaunlich aufmerksam, engagiert und präzise gab, als Judith Hermann nach der ersten Geschichte den Blick ins Publikum richtete und auf Fragen wartete.
Judith Hermann erzählte vom Schreiben, wie das Private ins Schreiben versenkt wird. Wie sie beim Schreiben von Erzählungen oft nicht weiss, wo genau ihr Schreiben hinführt. Und selbst wenn die Geschichten geschrieben und veröffentlicht sind, bleibt ein Rest Geheimnis, die Unsicherheit selbst bei ihr, wo genau der Kern einer Erzählung ist. Geschichten führen die Autorin. Die Figuren selbst sind es, die die Geschichten zum Leben bringen und damit viel Geheimnis zurücklassen. Sie bereite sich auf das Schreiben vor wie auf eine Expedition. Der schönste Moment des Schreibens aber sei der Schwebezustand, während dem man als Schreibende ganz allein mit dem dem Text ist, der Geschichte und den Personen ganz nah. Erzählungen wissen nichts mehr als ihre Leser, würden dem Leser viel mehr überlassen als ein Roman, der in der Regel abgeschlossen ist. Judith Hermann lässt den Leser gerne allein, weil sie weiss, dass nur ein übrig gebliebenes Rätsel den Leser zum Mitdenken zwingen kann.
Schriftsteller sind beneidenswert. Wer sonst kann alte Bekannte einfach so zu sich zurückholen? Wer kann Menschen, seien sie nun real oder fiktiv, so nah wie ein Schriftsteller kommen? Wer kann Erinnerungen so lustvoll erfinden? Wer kann wie ein Schriftsteller ungelöst Heikles, Rätselhaftes mit Schreiben bannen, ohne verstehen zu müssen, was genau passiert?
Judith Hermann zwang zum Nachdenken. Und das verdanke ich den mutigen Organisatoren der 1. Weinfelder Buchtage!


Judith Hermann beschreibt keine Verletzungen, aber die Narben, die sie alle mit sich herumtragen, die Male, Mutter- und Vatermale, Freundschafts- und Liebesmale, die nichts vergessen lassen. Und sie beschreibt sie mit Sätzen, die kurz und messerscharf sind, manchmal in ihrer Repetition wie Faustschläge auf blaue Flecken. «Er will es so. Genau so und nicht anders. Er will auf seinem gepackten Koffer inmitten einer Szenerie aus zusammenhangslosem Chaos sitzen, auf einem Trümmerhaufen, dann kann er sich den Anforderungen des Lebens halbwegs stellen.» Vielleicht einer der Schlüsselsätze im Buch. Einer jener Sätze so deutlich und klar in Geschichten, die ausufern, nicht in ihrer Erzähllänge, aber in der Potenz, die sie mit sich tragen.
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. «Alice» (2009), fünf Erzählungen, wurde international gefeiert. Zuletzt erschien der Roman «Aller Liebe Anfang». Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.