Arno Dahmer «Die Nüchternheit der Nullerjahre», ein Kapitel

1. Januar 2019, 10.00 Uhr

Was mag die Essenz des Felskletterns sein? Wenn ich die gesamte Zeit bilanziere, von 1994 bis heute, könnte die Antwort lauten: das Licht.

Licht, das mich die Wand emporträgt wie ein Aufwind. An einem sonnigen, nicht zu heißen Tag, an einem abgelegenen Felsen.

Licht dringt durch Stirn und Schädeldach in mich; erhellt die Nacht, die dort über Jahre geherrscht hat, bis ich nur mehr Licht bin; Licht, Licht, Licht, ein unendliches Strahlen und Gleißen.

Doch ist das Dunkel nun außen, fast überall, jenseits der Felsen; als wäre es in die Welt emittiert.

Wenn ich damals, während meines kurzen Studiums, etwa durch einen Korridor an der Uni gehe, in irgendeinem Hörsaal sitze, scheint Mangel an Licht mein Denken zu beeinträchtigen; ich merke, wie ich in dem Dämmer um mich her nur immer wieder „ja, ja, ja …“ sage – man hält mich für einen Idioten.

Lange Zeit später ist dann – aber nun werde ich gleich pathetisch – das Dunkel mein Schicksal geworden. Mein Augenlicht schwindet. Ich bin fast blind. Trotzdem klettere ich noch immer.

Wie geht das überhaupt? Und vor allem: Wie kam es dazu? Dass ich zu klettern anfing und weiterhin klettere. Davon handelt dieser Blog.

Er handelt allerdings in ein Dunkel hinein, wie jenes, das mich mehr und mehr umgibt. Wer werden seine Leser sein? Wird es welche geben? Liest jemand noch längere Texte oder scrollt man nur durch Newsfeeds?

Noch kann ich am Computer arbeiten. Weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, zwei bis drei Zentimeter hoch. Aber lange werde ich es nicht mehr können, es sei denn, ich erlerne die Blindenschrift. Dagegen sträube ich mich. Ein Behinderter will ich nicht sein. Doch wenn man eine eigens für Behinderte erdachte Schrift benutzt, ist man es dann nicht unleugbar und endgültig? Behinderte sind weder alt noch jung, weder Mann noch Frau. Sie sind einfach nur behindert. Sie gehen nicht auf Herren- oder Damentoiletten, sie gehen auf Behindertentoiletten. Sie parken nicht im Parkverbot, sie parken auf Behindertenparkplätzen. Jedoch: Ich schweife ab.

Was ich sagen wollte, ist: Mir bleibt nicht mehr viel Zeit für meinen Bericht. Einen Blog könnte man prinzipiell unendlich fortsetzen; das Web ist geduldig. So aber werde ich mich aufs Wesentliche beschränken müssen.

Ich habe vor, die Namen aller Personen, die hier vorkommen werden, zu ändern. Eine Ausnahme bilden berühmte Kletterer. Man würde ja auch nicht schreiben: „Gerald Röder“ oder „Der Kanzler, der Deutschland von 1998 bis 2005 regierte“. Das wäre ebenso albern wie verwirrend.

Ich selbst werde mich, einer Eingebung folgend, Markus Dengler taufen. Das klingt erdverbunden und mein Lebensweg mag zeigen, dass dies tatsächlich eine Facette meiner Persönlichkeit ist. Der Name im Impressum dieser Seite ist – allen Schlaubergern sei es gesagt – natürlich nicht meiner, sondern der eines entfernten Bekannten, der sich damit einverstanden erklärt hat, dort genannt zu werden. Er liest seine Mails übrigens nicht, geschweige denn Briefe.

Doch tue ich all dies nicht aus Angst vor Verwicklungen, juristischen oder auch nur privaten. Ich hoffe lediglich, auf diese Weise unbefangener schreiben zu können. Vielleicht kann ich überhaupt nur so schreiben, über mich selbst und im Internet. Entweder weil ich ein zurückhaltender Mensch bin oder, wahrscheinlicher, weil ich zur Zeit der Floppy Disks und Wählscheibentelefone geboren wurde, im Jahr 1977. Solche wie mich nennt man heutzutage „digital immigrants“. Und es stimmt: Das Internet ist uns etwas fremd geblieben.

Aber bin ich nicht andererseits ein Inbild des Zeitgeists? Der Unbekannte mit seinem Drang, sich einer virtuellen Öffentlichkeit zu präsentieren, um sich – ja, was? – seiner selbst zu vergewissern?, sich zu behaupten?, darzustellen?, vielleicht gar zu überhöhen? Der letztlich ungreifbare, geradezu unkörperliche Einzelne. Dieses Sich-Zeigen und Doch-nicht-zeigen-Wollen. Ob jemand sich dabei namentlich zu erkennen gibt, mag nicht der entscheidende Punkt sein. Denn ob einer durch Masken spricht, das wissen wir im Netz ja ohnehin nie.

Ihr könnt mich also für lächerlich modern oder peinlich altmodisch halten – das bleibt ganz euch überlassen.

[Der Text ist geplant als eines der ersten Kapitel des in Arbeit befindlichen Romans „Die Nüchternheit der Nullerjahre“. Dieser spielt in der Subkultur der Felskletterer und erzählt die Geschichte einer schwierigen Jugendfreundschaft. Der Roman hat die Form eines fiktiven Blogs.]

 

Arno Dahmer wurde 1973 in Frankfurt am Main geboren. Heute lebt er in Mainz. Er studierte Germanistik, war danach u. a. journalistisch tätig und arbeitet zurzeit als Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er veröffentlichte kurze Prosa in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie den Erzählband Manchmal eine Stunde, da bist Du (Mirabilis, Klipphausen/Miltitz, 2017). Arno Dahmer nahm an der von Kurt Drawert geleiteten Darmstädter Textwerkstatt teil und erhielt für seine literarische Arbeit einige Stipendien sowie einen Sonderpreis beim Uslarer Literaturpreis. Bei kul-ja! publishing erschien im März 2023 sein Roman «Ein Mythos von mir». Aktuell arbeitet Arno Dahmer an seinem neuen Roman, der voraussichtlich 2026 bei kul-ja! publishing erscheint.

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Beitragsbild © Julia Kulewatz

Boris Hoge-Benteler „Klosterberg“ (Romanbeginn), Plattform Gegenzauber

1.

Gartenhaus

Hagebutten und Kastanien auf dem Schreibblock schweben, von oben fotografiert, über dem linienlosen Weiß. Der Kopf. Sein Hängen. Das Klicken des Kugelschreibers.

 

Flur

Der Tunnel ist mir fremd, und ich habe Angst. Nicht aber, dass ich allein bin, ängstigt mich, nicht die vielen nur vage auszumachenden, geschlossenen Türen zu beiden Seiten, nicht die Unkenntnis dessen, was sich hinter ihnen wohl befinden mag, auch nicht die Abwesenheit meiner Schritte auf dem lautlosen Teppich, sondern allein, in diesem Augenblick, der Umstand, dass hinten, ganz weit hinten eine Tür sich öffnet und wieder schließt zu einem Licht, das mich auffordert, ja zwingt, nicht stehenzubleiben und immer weiter darauf zuzugehen.

Nur darum drossele ich meinen Gang, tausche Neugierde und düstere Erwartung ein gegen Achtsamkeit, spüre meine Füße in den Socken, in den Schuhen, die Sohlen auf dem Teppich, das Abrollen der Ferse erst links und dann rechts und wieder links und wieder rechts, spüre meine Hände in den Seitentaschen meiner Jeans, mit der einen ein Feuerzeug umfassend, mit der anderen einen glatten, nicht ganz runden Stein, spüre ein leichtes Jucken an drei Stellen meiner Kopfhaut, einen leicht bitteren Geschmack auf der Zunge, aufsteigende Luft im Magen, ein nervöses Drücken im Darm. Und obwohl das alles nicht angenehm ist, versuche ich, es mir einzuprägen und es zu bewahren, während der Tunnel mich dunkel umgibt und das Licht dort hinten immer kleiner wird und sich immer weiter, mich an sich ziehend und mich nicht loslassend, von mir entfernt.

 

Fahrt

Alle Erwartung frisst sich zurück in meinen Bauch, und ich wende, mit bereits geschlossenen Augen, den Blick ab, den ersten und anhaltenden durch das Fenster hinter dem Schreibtisch, wende ihn ab von den Ställen und der Schmiede, der Wiese, dem Zaun, dem Rest einer Mauer. Ich verstaue das Schreibzeug, den Walkman, alles Umherliegende in Tasche und Rucksack, streife die Jacke über, streiche erneut und erstmalig mit der Hand über den blassgelben und beigen Frotteebezug des Kopfkissens und der Decke, sauge den Geruch nach starkem Waschmittel ein und nach kaltem Staub, sauge den blaugrauen Teppichblick ein, den Blick auf Furnierholz, die Schublade des Nachttischs, das Milchglas der Lampe, das Kreuz darüber, sauge das alles, kaum wurde es vor mir ausgeschüttet, ein, denn nichts soll zurückbleiben, alles sei rückwärtig, bis sie mir übergehen, Augen und Hirn, und ich das Zimmer verlasse, den Flur, die Wohnung, das Treppenhaus mit den hölzernen, nicht endenden, ächzenden Stufen.

Draußen schiebe ich meine Sachen auf den Rücksitz des Wagens, schließe alle Türen, auch den Kofferraum, steige ein, starte und fahre los, im Rückwärtsgang, den schmalen Weg entlang durch den Garten und den Park mit seinen Gemüse- und Blumenbeeten und alten Bäumen, vielleicht sind es Linden, vielleicht auch Kastanien, rolle vorbei an Schmiede und Töpferei, einem Seiteneingang, einem geparkten dunkelblauen VW Golf, passiere rechts das sich jäh und wie von selbst öffnende Eisentor, passiere die verlassene Pforte, die lange weiße Frontseite des Klosters, das rotgeklinkerte Gästehaus, den Parkplatz, die Obstwiesen, die Schule, rolle weiter zurück bis zur Kreuzung, biege nach links ab, schaue auf das Gelb einer Telefonzelle, auf die bunten Auslagen eines Kiosks, nehme den Fuß von der Bremse, gebe Gas und schlängele mich über etliche Kurven den Berg hinab. Fahre den Klosterberg hinab. Bewege mich dabei rückwärts und verschwinde, den Blick wiederum auf Gelb, doch diesmal des Ortsschildes, gerichtet, in einem Wald, einem dunklen Tannenwald, auf den nach langer Zeit braune Äcker folgen, dann wieder ein Wald, Hügel mit grauen Stoppelfeldern, Wald und wiederum Hügel, die Straße in Schlangenlinien den Fluss entlang und irgendwo dort hinten, jenseits des Tales und steil herauf, in schwindender Ferne, mir schwanend: das Dorf und das HAUS.

Ich stelle jetzt, Pauls Wunsch gemäß, vieles vor mich hin, als käme es einer Sichtung gleich, bedenke die Zeit und ihre Lügen, unzählbare Versuche, mir weißzumachen, dass sie vergehe.

Ich entkomme nicht und komme auch nie an. Und unterwegs werde ich mich nicht verlieren im schönen Detail. Denn das schöne Detail ist nicht schön, und ich verliere mich nicht in, sondern ich kralle mich fest an ihm.

 

Flur

Ich stehe vor einer hellen Tür und weiß nicht, ob ich sie öffnen soll. Das Tageslicht, das für mich ganz plötzlich von außen durch die obere und untere Glasscheibe dringt, sorgt dafür, dass ich abrupt die Augen schließe und sie nur zögerlich und blinzelnd wieder öffne. Hinter mir weiß ich einen langen dunklen Flur, dessen Ausgangspunkt mir in diesem Augenblick entfallen ist.

Ich habe Angst in beide Richtungen.

Die Tür hat, glaube ich, im Gegenlicht einen sehr dunkelgrünen Rahmen.

Wenn ich wüsste, ob und hinter welcher der vielen abgehenden Türen in meinem Rücken sich ein Ort des Unterschlupfs befindet, vielleicht ein dunkler und enger Wäsche- oder Putzraum, eine Dusche oder eine Toilette, würde ich mich, vielleicht, jetzt, in diesem Augenblick, umdrehen, um ihn aufzusuchen. Mich einzuschließen in einer der Kabinen. Vielleicht auch zwischen den Eimern und Geräten einer Abstellkammer. Um Zeit zu gewinnen.

Die Tür verfügt über einen Stoßgriff, rechteckig, aus schwarzem Kunststoff. Keine Klinke. Zum Aufschieben oder  ziehen, je nachdem. Sie ist nicht verschlossen. Sie führt nach draußen, kein Zweifel.

Wie mit der Nase eines Kindes am Glas mit Blick von drinnen nach draußen: Dort sitzen und bewegen sich große Menschen, wie viele, ist von hier aus nicht zu erkennen. Etwas trübt die Sicht, Nebel oder Rauch. Akustisches nehme ich nicht wahr.

Welche Art des Öffnens, frage ich mich, wäre das, öffnete ich die Tür ganz langsam oder versuchte ich, sie aufzustoßen, ruckartig, und welchen Ausmaßes wäre dieses Öffnen, und was würde sein, und was würde folgen.

Ich umfasse den Griff, gebe mir einen Ruck: der allerdings nicht oder nur halb nach vorn, nach draußen, sondern zugleich nach hinten losgeht, ins Dunkle, wo ich mich rasch verkrieche, in irgendeiner Ecke, fort bin und unauffindbar, während ich im selben Augenblick und etwas ungelenk nach vorne kippe und mich und einen nicht leicht zu bestimmenden Teil von mir wiederfinde am Ein- oder Ausgang eines Hofes.

 

Kabine

Ich sitze im Dunkeln und gehe davon aus, dass ohne Licht die Zeit nicht vergeht. Dass sie anhebt und vergeht, nur wenn es hell ist.

Wenn ich an die Fahrt denke, dann nur an ein stehendes Bild, vielleicht auch mehrere, aber immer stehend. Dass keine Gefahr ausgehe von ihnen.

Was, frage ich mich, werde ich tun, wenn jemand kommt und das Licht anschaltet? Mich auf keinen Fall räuspern, nur nichts zu erkennen geben, nichts, das sich zurückverfolgen, sich einfordern ließe. Ich werde die Luft anhalten, den Herzschlag herunterfahren, mir die Fluchtwege vor Augen führen, auch das Heimweh verdrängen, es mir verbieten, wonach auch. Nur im Dunkeln entfällt die Frage, in welche Richtung ich denken oder schauen und mich bewegen werde.

Doch wenn das Licht angeht, seltsam, wird Paul dann denken, dass die Tür der Kabine verschlossen ist. Dann wird er wissen, was los ist, was ich getan habe, wird, nur kurz und ohne sie nach unten zu drücken, die Hand auf die Klinke legen, wieder heben, mit den Fingernägeln fast und doch nicht, aber fast schon hörbar, über die glatte Furnierschicht der Tür streichen, um sich dann, mit leichtem Rauschen, wieder zu entfernen. Das Licht zu löschen. Und seine Schritte auf dem Teppich des Flures und die Richtung seines Fortgehens werden nicht mehr auszumachen sein.

Oft, denke ich, wird von jetzt an diese Kabine der Ort meines Rückzugs sein.

 

Hof

Als wäre ich, gerade jetzt, an einem trüben Tag und in fremder Umgebung aufgewacht. Es ist weniger hell, als es der Übergang von Schlaf zu Nichtschlaf vermuten ließ. Ein kühler, etwas milchiger Nachmittag ist dies. Rauch und Nebel weiten die Grundfläche des Hofes, die in vermeintlicher Ferne eingefasst scheint von einer vage verlaufenden, in blassem Rot sich verlierenden Mauer.

Die Welt ringsum ist nicht vorhanden, innerhalb der Mauer jedoch nehme ich gleichzeitig Verschiedenes wahr: vorne einen Grill, qualmend, darauf graue, braune oder geschwärzte Würstchen, zwei Bierkisten, einige Flaschen Cola, Becher, zwei Bierbänke und einen Tisch.

Die Personen zu zählen, liegt mir jetzt fern, es scheinen viele, aber mir fällt auf, dass sie alle Jacken tragen und dass doppelt so viele Augen sich jetzt, womöglich, auf mich richten und mir zu sagen scheinen: Jetzt musst du etwas tun oder etwas sagen. Noch stehe ich abseits, aus Scham, dass sie mich sehen, doch schon höre ich eine Stimme, die ich kenne, dann sehe ich ihn auch: Bruder Paul.

„Da bist du ja.“ Und prompt werden mir, viel zu schnell, die vorgestellt, denen ich zugeordnet werde, die mich einarbeiten und von nun an begleiten sollen, es sind vier: Tom, Liv, Chris und Ka.

Dann sitze ich etwas krumm auf einer der Bänke, eine Bierflasche in der Hand, zwischen ihnen. Das Bier macht die unruhigen Hände, macht den nervösen Magen kalt. Stimmen erfasse ich, doch keine Worte. Paul befindet sich nicht weit von mir. Von oben ragt der Ast irgendeines Baumes ins Bild, das hin und wieder flackert, wie unentschieden zwischen Farbig und Schwarzweiß.

„Vergiss nicht“, höre ich ihn durch das Blättergewirr und die Stimmen der anderen hindurch zu mir sagen, „morgen, um halb acht.“

 

(Der Roman „Klosterberg“ erscheint im Herbst 2025.)

Boris Hoge-Benteler „Liebe Dunkelheit. Briefroman“, kul-ja! publishing 2023, 304 Seiten, ISBN: 978-3-949260-13-1

Boris Hoge-Benteler, geboren 1979 in Marburg, aufgewachsen in Büren (Westf.), studierte Neuere deutsche Literatur, Italienisch und Geschichte in Berlin und Wien und promovierte in Münster über Russland-Konstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur. Er arbeitet als wissenschaftlicher Bibliothekar in Jena und lebt in Weimar. 2022 erschien sein Debütroman „Sonnenstadt“, 2023 folgte sein Briefroman „Liebe Dunkelheit“.

Der Autor auf literaturport.de

Beitragsbild © Miriam Benteler

Julia Kulewatz «An der Wortgrenze», Plattform Gegenzauber

Es gab eine Unzeit, in der mein schmal gewordenes Fenster zu einer fremdbestimmten Außenwelt in einem ungewollten Briefschlitz in einer fremden Halbstadt ohne Hafen, in einem noch fremderen Rathaus bestand. Als Strandgut war ich zunächst unerwartet angespült worden, und es gab Menschen, die mich über den Schlitz fütterten.

Währenddessen bewohnte ich ein mir zugeschriebenes Zimmerquadrat, einen Container in Beton auf Zeit in einem Hinterhaus, vor dem das zweigeteilte Rathaus stand, in dem alle Mitbewohner einen ständigen Wechselreigen vollzogen, der einem absurd bedrohlichen Tanz ohne Syntax glich. Nur ich blieb, weil das vertraglich eben so geregelt war, und schrieb um mein Leben. Andere hatten dieses bereits abgeschrieben. Das Rathaus stand auf einer steinernen Brücke, unter der ein träge reißender Fluss floss, der seine Fließrichtung dem politischen Geschehen anpasste. Wann und wie das geschah, entschied allein der Fluss. Ich aber ernährte mich von verzweifelten Briefen.

Nachts wurden Stimmen als Gewirr an mir laut. Alles kratzte an Beton. Sie von außen, ich von innen. Strukturen und Risse bekamen einen eigenen mitternachtslangen Atem. Die Verlebendigung der Dinge lauerte in jeder Ecke, und an den vier Betonquadratflächen wuchs ein vielstimmiges Brummen aus männlich anmutenden Hohlkörpern, die ein dissoziatives Klangkollektiv bildeten, von dem ich wusste, dass es mich mit der Zeit auflösen würde, je näher es kam. Jemanden abschreiben ist ein pathologischer Prozess. Das wusste auch der Fluss unter der steinernen Brücke, in den ich mich nicht stürzen konnte. Unter-Wasser-Sein war einer meiner wenigen, völlig freien Gedanken, den ich gleichzeitig auf meinem Trommelfell tanzend fühlen konnte. Wenn die Stimmen aufrückten, begann ich, bereits ausgelesene Briefe unbeantwortet in mich hineinzustopfen. Meine Stopfbewegungen während des Fressvorganges waren wie alles andere hier streng durchchoreographiert. Gut, dass das niemals irgendjemand zu sehen bekam. Papier war wertvoll, Zeile-für-Zeile-Zweifel. Ich-hungrig. Hunger-Ich. Hungrich. Zurück blieb alles Einverleibte, Schalldämmung, als sei ich ein luftloses Gummiboot, dem man weder Pumpe noch Atem hätte spenden können.

Ich erblickte das Licht der Welt unter Wasser an einem Freitag, dem 13. Es war der Tag, an dem meine Schwester an mir ertrank. Ich habe vergessen, wie Schwimmen geht, wie man sich oben, den Kopf über Wasser hält. Alle erinnerten Bewegungen, die damit in Zusammenhang stehen, sind ohne Hoffnung auf Bergung hinter meiner Stirn verschwommen. Wasserwege kennt auch die Urgroßmutter im Mittelmeer. Nur noch ein halber Mensch, vielmehr im Unterleib schon eine weiterhin sinkende Fürstin zur Tiefsee. Wir trieben voreinander her, immer dann, wenn ich meine Gedanken an den Fluss trug.

Jetzt halte ich ein Meermahl mit Briefen ab, und wir verschlingen einander, bis es um uns stiller wird. Bis ich ganz voll bin und mit dem Platzen drohe, Wortfetzen spuckend, so will es das Bild. Ich sehe ein, der Schlitz ist mir nur ein halber Freund, das Rathaus gar keiner, der Fluss ein ferner Geliebter auf Reisen, wie die verschleierte Sonne, aber manchmal mit Perlenkoffer und dann mit für immer verschlossenen Süßwassermuscheln in den Geheimtaschen eines verwaschenen Fracks. In Salz reingewaschen, kann man nicht lügen, das ist wie Tränentrinken.

Neben mir war das Quadrat von Büchern bewohnt. Ein wackliger Turmbau-zu-Babel-Versuch wankte in jeder der vier Zimmerecken eigenmächtig rufend vor sich hin. Ich war und blieb nicht mehr als ein Geist unter ihren durchsichtigen Stimmen, mit denen sie unaufhörlich auf mich einsprachen, um Berührung baten. Man wollte mich zum Lesen bewegen. Keinen einzigen Brief hatte ich verdaut, am schwersten aber wogen die Handschriften in mir, die hatten, so ahnte ich es, ganze Schiffe versenkt, aber was sonst hätte ich hier essen können? Schließlich wusste man nie, was der Fluss trieb und wie weit.

Ein einziges Wochenende im Jahr stand der Fluss in bunten Flammen, war nach oben und unten hin in allen Farben verspiegelt und die betrunkenen Gummiboote meiner Erinnerung trieben munter und völlig unkoordiniert durch das von Nord- und Südseerauch begleitete Feuerwerk des Flusses. Das Feuerwerk war ein menschgöttlicher Frevel und strebte wie die Buchtürme meines Containers dem Himmel entgegen, bevor es ganz in sich zusammenfiel, bevor alles auslief. Mir war es dann, als würde die Urgroßmutter, die ich liebevoll „Tiefsee“ nannte, den spitzen, dauerhaft aufgeweichten Zeigefinger heben. Ich stellte mir vor, wie ihr alle Fische gehorchten, selbst die auf dem Wasser treibenden, wenn sie auf ihrem Thron aus Knochen und Gräten saß, eine eigene Ahnenlinie aus Fischen und Menschenleibern in jeder Silberschuppe. Mit diesem Gedanken schlage ich die Augenlider nieder, und meine Wimpern werden mir selbst ein fadenscheiniger Vorhang aus feinsten Haarkurven, das ein oder andere Mal sogar lückenlos und wasserfest getuscht. Ich weiß es nun ganz sicher: In Salz rein gewaschen, kann man nicht lügen, das ist wie Tränentrinken.

Die Zeit floss träge an mir vorüber, solange ich gut zu schweigen übte. Die Stimmen verschwanden nicht, vielmehr fanden sie einander und kreierten neue Geschichten aus unbelebten Texten. Jedes Buch war ein Zuschlag, Briefe von Fremden, gelandet im Briefschlitz mehr oder weniger schmackhafter Nachschlag. Wie hätte ich auch nur an Befreiung aus dem Betonquader denken können, jetzt, wo mir nachts die Tiefsee sang? Jetzt, wo mir unser aller Urgroßmutter den Kopf höchstpersönlich schüttelte?

Es ist nicht so, dass ich das Schwimmen inzwischen neu hätte erlernen können. Alles, was ich tat, waren Übungen auf dem Trockenen, oft ohne Sinn und Verstand. Ich wusste mit aller Klarheit, dass selbst ein sehr kleines Aquarium im Zimmer mir eine Art Rettung hätte bedeuten können. Natürlich hätte die Grundform ein Quadrat sein müssen. Es wäre bestenfalls ein Schweigen mit befreundeten Fischen geworden, alles hinter Glas, durchsichtig, wie ich. Mondscheinfadenfische oder Mosaike wäre schön gewesen, eine Kommunikation über Fäden und Finger, über Augenpaare und glänzende, zuckende Leibeigenschaft. Wie gut, dass es hier um mich keine Spiegel gibt. Es ist seltsam, wenn auch der Wasserhahn zu krähen aufhört, im Schweigen ist er lauter geworden, rostig gar und kalkig verhärtet war sein Gesang. Jedem Fisch hätte ich einen quarzigen Stein der Anbetung geschenkt, und gemeinsam hätten wir alle Gebete geschwiegen.

Ich hätte weiter von Weltenflucht träumen können, wäre da nicht eines Tages plötzlich das Boot gewesen …

Eines Tages steckte man durch den Briefschlitz des inzwischen modernisierten, aber noch immer geteilten Rathauses ein sehr eng zusammengefaltetes Gummiboot. Es passte nach der Entnahme genau auf meine linke Hand, die sich der Welt durch ungewollte Wassereinlagerungen beachtlich angeschwollen darbot. Man verschloss wie im Vorübergleiten meine Sicht mit dieser freundlich anmutenden Geste ganz, ich sah noch die fremde Hand, wie sie an einem schwarzen Anzug herabhing und im Schlendergang von mir ging. Auch das Boot war ein Geteiltes: Die Unterseite war von himmelblauer Farbe, die obere gab sich wie ein weites, gelbstinkendes Rapsfeld. Ich könnte Teil des Flusses werden, wenn mir nur nicht zu früh die Puste ausginge, schoss es mir augenblicklich durch den Kopf. Der spitze, aufgeweichte Zeigefinger meldete sich daraufhin kurz. Ich erinnerte mich an ein Bild der Urgroßmutter, Tiefsee, mit knöchellangen, schwarzfließenden Haaren auf einem durchnässten Kleid. Das Boot kam überraschend und ohne Zubehör, aber mit eindeutigem Slogan: „LASST UNS ALLE DIE ZÄHNE FLETSCHEN!“ stand in serifenlosen Capital Lettern zwischen falschem Himmelblau und stinkendem Rapsgelb als wasserfeste Wortgrenze in drohend glänzendem Schwarz auf dreieinhalb Metern weichgemachtem PVC geschrieben. Ich wusste; die Tiefsee hatte bis zu ihrem Tod alle Weisheitszähne behalten.

Übereilt beschloss ich eine Flucht in Wortfetzen, von mir gesponserter Atemluft und in mir gelagertem Wasser, denn ein eigenes Aquarium, so musste ich einsehen, blieb ein unerfüllbarer Traum vom artübergreifenden, allumfassend gemeinsamen Schweigeerleben. Ich befürchtete, einem aufgeblasenen Tierkörper Leben einzuhauchen, das Boot hatte Zähne, das wusste ich bereits. Jeden Tag befüllte ich das Rettungsmittel, bis ich keinen Atem mehr hatte. Ich würde schwimmfähig werden durch Luftverkehr. Es kam der Tag, an dem das Boot beinahe mein ganzes Zimmer füllte. Ich aber war weniger als ein luftloses Geistwesen, das noch immer schwere Briefe zu verdauen hatte. Mit der Atemluft waren Buchstaben aus den Briefen aus meinem Verdauungstrakt in das Innere des Schlauchbootes gewandert, Rapsgelb und Himmelblau hatten einander buchstäblich eingetrübt. Die Wortgrenze verschwamm. Doch ich war sicher, alles unter mir würde dem Flusswasser standhalten. Meine Befreiung gestaltete sich unerwartet leicht. Der Vertrag lief aus, und man gestattete mir nicht länger, ein „überteuertes Pensionszimmer“ hinter dem Rathaus zu bewohnen, auch die Büchertürme müssten schnellstmöglich verschwinden, sagte eine Altfrauenstimme hinter dem mir zugeteilten Briefschlitz barsch, während sie einen letzten unverdaulichen Brief in meinen Rachen einwarf. Ich trennte das Zimmerquadrat auf die sanfteste Art von mir ab und ließ nichts zurück, das man mit mir hätte verbinden können. Ich war nicht traurig, denn in Salz reingewaschen, spricht man die Wahrheit, das ist ein Tränentrocknen. Befreit trug ich alle meine Bücher im Schlauchboot auf den Fluss hin zu. Die Tiefsee aber schwieg in mir.

Julia Kulewatz studierte Literaturwissenschaft, Philosophie, Modezeichnen, Choreografie in Erfurt und Seoul. Sie ist Dozentin für Kreatives Schreiben an verschiedenen Universitäten und Volkshochschulen sowie Verlagsleitung von kul-ja! publishing. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten, Lyrik, wissenschaftliche und literarische Essays und Romane. 2022 wurde sie mit dem Stadtschreiberstipendium von Neu-Ulm ausgezeichnet, 2023 mit dem KUNO-Essay-Preis.

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