Daniel Goetsch schrieb mit „Fünfers Schatten“ einen kunstvoll konstruierten und sprachlich meisterhaften Roman über einen Mann, der mit seiner Geschichte ins Uferlose abdriftet, seiner eigenen Geschichte abhanden kommt. Ein beeindruckendes Buch mit ungewohnten Horizonten. Literatur, die einem etwas abverlangt und zutraut.
Maxim Diehl, ein erfolgreicher Theaterautor, setzt sich auf eine Insel vor der französischen Mittelmeerküste ab. In eine kleine Pension, nicht weit von dem Haus, in dem der Vielschreiber Georges Simenon Romane am Fliessband in seine Remington tippte. Aber Maxim Diehl ist aus dem Tritt geraten, möchte schrieben, findet aber seine Stimme nicht. Die Urangst jedes Autors. Erst recht in Hörweite eines Hauses, aus dem das Tippen noch immer, für Maxim Diehl als Drohung, den Takt angibt.
In der Pension ist er der einzige Gast, bedrängt von der Besitzerin, die bei jedem auftauchenden Schreiberling hofft, ihre Geschichte und die ihres Mannes unterzubringen. Diehl flieht vor der Pensionsbesitzerin und den leeren Seiten seiner Notizbücher. Auf diesen Spaziergängen begegnet er einem alten Amerikaner, der vor seinem Hotel alleine Cognac trinkt. Jack Quintin beginnt zögerlich seine Geschichte zu erzählen, als er auf Seiten der Alliierten gegen Ende des Krieges nach Deutschland kam. In einer Spezialeinheit hatten sie die Aufgabe, für die führungslose Verwaltung im besiegten Deutschland fähiges Personal zu rekrutieren, das während der Nazizeit nicht brauner Gesinnung unterlag. Während er sich in Interviews einen Reim auf die verdunkelten Lebenslinien der Überlebenden zu machen versucht, verliebt er sich gegen die Weisung der Besetzer in die junge, hübsche Tochter eines Kandidaten.
Diehl erliegt der Geschichte des Amerikaners. Er, der eigentlich einen Roman über seine eigene Geschichte schreiben wollte, nicht zuletzt über die wilden 70er Jahre in Zürich rund um die Globuskrawalle oder die von der Öffentlichkeit vergessene Selbstverbrennung der jungen Silvia Zimmermann im Winter 1980, mitten in Zürich. Revolte und Aufbruch. Statt dessen erliegt er der Geschichte des Amerikaners, beginnt wie besessen aufzuschreiben, was ihm der Amerikaner erzählt. Eine Geschichte, die den auf die Insel Entflohenen noch einmal von seinem eigenen Leben wegträgt. Ein Leben, das aus der Distanz, auf seinen Spaziergängen, im Wanken zwischen medikamentös unterstützter Euphorie und tiefen Abstürzen immer mehr in Schieflage gerät.
Und als Diehls schon längst geschiedene Frau zusammen mit dem gemeinsamen Sohn ihren Besuch auf der Insel ankündigt, droht sich zur Flucht eine unabwendbare Konfrontation zu gesellen. Eine mit einem auseinandergebrochenen Leben, einem autistischen Sohn, der nie zu seinem eigenen Sohn geworden war, einer nicht wahrgenommenen Pflicht, einer ungewollten Vaterschaft. Und unter allem, zwischen allem und hinter allem die Erinnerungen an Viv, der einzigen Liebe, die aber nie wurde, was sie hätte sein können, sein sollen.
Die Geschichte Jack Quentins, eine Geschichte in den Ruinen Deutschlands verknüpft sich mit einem unwirklichen Sog mit seiner eigenen, der Geschichte Maxim Diehls. Ein Sog, der sich auf den Leser überträgt. Geheimnisse, deren Erklärung man unbedingt entgegenlesen will.
Daniel Goetsch erzählt zeitlich auf mehreren Ebenen, ebenso wie in seinen Erzählpositionen. So nah einem die verschiedenen Perspektiven erscheinen, so weit weg geraten sie aus jeweils anderer Perspektive. Es entstehen Vexierbilder, Kippbilder.
„Fünfers Schatten“, ein kluger Roman, ein Buch über Biographien, Lebensentwürfe und den Versuch ihrer Realisation. Diehl wird von seiner Geschichte weggespült, in die Unendlichkeit der Bedeutungslosigkeit. Das, was uns dereinst allen blüht, man aber geflissentlich verdrängt und vergisst, solange man sich im Zentrum des Universums glaubt.
Hochgradig gute Schweizer Literatur mit dem Zeug für das grosse Buch! Daniel Götsch liest morgen Freitag, am 20.April, im Kosmos Buchsalon in Zürich.
Daniel Goetsch geboren 1968 in Zürich, lebt als freier Autor in Berlin. Er verfasste mehrere Romane, darunter »Herz aus Sand« und »Ben Kader«, sowie Dramen und Hörspiele. Für »Ein Niemand « erhielt er das HALMA-Stipendium des europäischen Netzwerks literarischer Zentren.
Titelfoto: Sandra Kottonau