„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ meint jedes Liebespaar des letzten Jahrhunderts. Julia Schochs zweiter Roman einer Trilogie beschreibt die Mechanismen einer Partnerschaft derart entlarvend, als wäre ihr Schreiben in ein grelles, blau schimmerndes Neonlicht getaucht. Ein schonungsloser Roman über den Schattenwurf eines institutionalisierten Lebenstraums.
Sie kennen das; Sie schauen in einen fremden Spiegel, in einem Raum, dessen Licht die kleinste Pore in ihrem Gesicht zeigt, der ein Spiegelbild offenbart, das einem zweifeln, das den kalten Schauer der Ernüchterung über den Rücken kriechen lässt, die leise Ahnung darüber, wie leicht man sich von Idealen betäuben, von Fassaden blenden, von Ernüchterungen verstummen lässt.
Eine Frau erzählt von ihrer Ehe. 30 Jahre ist sie verheiratet und in einer Beziehung geblieben, die sich wie ein nur noch schwer manövrierbares Schiff immer weiter von allen Küsten entfernt. Eigentlich hatte sie schon längst die Absicht, jene drei Wörter loszuwerden, die dieser Ehe endlich ein Ende mit Schrecken setzen würden. Aber aus der Jahrzehnte lang verschobenen Absicht wird ein romanlanger Erklärungsversuch darüber, was Beziehungen anrichten, die sich institutionell in Gewohnheiten und gegenseitigen Abhängigkeiten verloren haben. „Ich verlasse dich“ – so kurz wie die drei Worte, die meist zu Beginn einer Beziehung stehen; „Ich liebe dich“.
Vielleicht erklärt sich der Umstand, dass sie bleibt, darin, dass das Abwägen zwischen Vor- und Nachteilen, zwischen Verlust und Gewinn über die meiste Zeit ein unentschiedenes ist. Das, was zu Beginn jeder Ehe, jeder offiziell gemachter Beziehung als Leidenschaft und Zustand des Verliebtseins, Herz und Verstand in Wallung versetzte, verändert sich mit der Zeit, erst recht in einer amtlich gewordenen Ehe, einem Konstrukt, das selbst mit grösster Anstrengung nicht so einfach beendet werden kann. Die Gründe warum man bleibt und eben diese drei Worte „Ich verlasse Dich“ nicht ausspricht, sind so vielfältig wie das, was Menschen bei einer Ehe einander hinter diesem „Ja“ versprechen. So wie im Roman von Julia Schoch, eigentlich ein buchlanger Monolog: „Du warst seit langem der erste Mensch in meinem Leben, der nicht sofort wieder verschwinden wollte.“
„Ich dachte: Das wird nicht mehr gut. Aber es ging einfach weiter.“
Sie erinnert sich an die Zeit, als sie sich während des gemeinsamen Studiums kennen lernten. An die Zeit, in der alles wie ein Wunder erschien, der Himmel golden schimmerte und man sich diesem ganz nah fühlte. Sie beide wuchsen in der DDR auf, einer Diktatur, und die Liebe war nicht nur ein unendlich weites Land, das man zu zweit entdecken wollte, sondern Rückzugsort und Bastion in einem System, das omnipräsent kontrollieren wollte. Die Liebe versprach ein gemeinsames Abenteuer. Aber mit dem gemeinsamen Weg wächst nicht nur das Reservoir an überstandenen Prüfsteinen, sondern jenes vieler kleiner und grosser Verletzungen, nicht zuletzt von Selbstverletzungen. Was zu Beginn nur Gefühl, Leidenschaft, Glück war, wird im Zusammenleben in einer Wohnung, im Teilen der Aufgaben, mit einer Familie, den Kindern, all den Pflichten nach innen und nach aussen zu einem feinmaschigen Konstrukt von Erwartungen und Mechanismen.
„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ist eine erzählte Liste all der Gründe, warum es dreissig Ehejahre wurden, obwohl es eine lange Kette von Momenten gab, die ihr genügend Gründe geliefert hätten, einen Punkt zu machen. Julia Schoch hält mir selbst einen Spiegel hin, leuchtet mit bläulich grellem Neonlicht in die Winkel, die wir gerne im Dämmer lassen. Manche Szene, mancher Gedankengang war wie ein Schlag in die Kniekehle. Sie entblösst, reisst alle Maskerade, alle falschen Fassaden weg. Aus der Lektüre tauchen Gedanken, die das eigene Verdrängen bis über Schmerzgrenzen hinaus spiegeln. Schlussendlich bleibt ihre Gewissheit: „Jeder lebt sein Leben.“
Ein Roman, der nicht umgarnen will. Aber ein Roman, der mich staunen lässt, nicht nur inhaltlich, nicht nur über seine Wirkung, auch über den Mut dieser Autorin!
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau». Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.
Sind Sie sich sicher? Beschleicht Sie manchmal der Zweifel? Hatten Sie als Kind auch jenen Moment, an dem sie mit einem Mal die Sicherheit verloren, ob jene Frau und jener Mann wirklich Mutter und Vater sind? Julia Schoch beschreibt in „Das Vorkommnis“ einen Moment, der das Gravitationsfeld eines ganzen Lebens verschiebt.
Ihre Protagonistin ist Schriftstellerin, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Das Leben nimmt seinen Lauf, ist geregelt, auch wenn ihr Vater im Krankenhaus liegt und es den Anschein macht, als würde er nicht von dort zurückkehren. Nach einer Lesung im Kulturhaus einer norddeutschen Stadt tritt eine Frau an ihren Tisch, schiebt ihr Buch zum Signieren hin und während die Schriftstellerin zu schreiben beginnt, fällt der Satz: „Wir haben übrigens denselben Vater.“ Der Füller entgleitet und zieht eine Line quer durch die Seite. Ein Schock. Aber statt in Starre zu verfallen angesichts jener, die noch auf eine Signatur warten, steht sie auf und fällt der wildfremden Frau schluchzend um den Hals.
«Familie ist Fiktion.»
Eine Zäsur. Julia Schochs Roman dreht sich um diesen einen Moment, erzählt von den Kurzzeit- und Langzeitfolgen, beschreibt die Tsunamiwelle und deren Auswirkungen, wie sehr sich Sicherheiten in Verunsicherungen drehen, wie ein Leben im Konjunktiv zu wanken beginnt, wie sich ein einziger Satz zu einer Wolke verdichtet, die alles einnimmt. Obwohl sie wusste, dass ihr Vater vor seiner Heirat mit ihrer Mutter eine Beziehung hatte, aus der ein Kind hervorging, erschüttert sie die Begegnung bis ins Mark. Obwohl da vor langer Zeit einmal ein Zettel war, den die Mutter in der Jacke des Vaters fand, ein Zahlungsnachweis für Alimente, reisst der Satz einen schweren Vorhang herunter, den man in der Familie mit Bedacht über dieses eine Kapitel gehängt hatte. Aber wie in allen Biographien, in allen Leben; das eine macht man zur Familiengeschichte, immer und immer wieder erzählt und zelebriert. Und anderes schiebt man in dunkle Winkel, bemüht darum, dass sie nie mehr in den Lichtschein einer unbedachten Aufmerksamkeit geraten.
Gegen Aussen bleibt sie die Alte, nimmt eine Einladung einer us-amerikanischen Universität an uns fliegt mit den beiden Kindern und der Mutter in die Staaten. Mutter und Vater sind längst geschieden. Sie doziert, schreibt und lebt sich im Campus ein. Aber innerlich brodelt es, nimmt die Tatsache, dass sich jene Frau aus dem Dunkel des Vergessens traute, jede einzelne Faser ihres Denken und Handelns ein. Da ist ein Leben, das ihr verborgen bleibt. Eine Halbschwester. Eine andere Mutter, die dieses Kind damals zur Adoption freigab, es weggab. Ein Vater, ihr Vater, der sich dem Kind verweigerte. Ein Vater, den sie nicht mehr stellen konnte, der sich von ihr durch seine Krankheit, sein Alter entfernte. Julia Schoch beschreibt diese Familie als Quadrat mit ziemlich langen Seiten. Aber mit einem Mal ist dieses Quadrat aufgerissen, ein Fundament ihres Seins weggerutscht. Während sich ihre Eltern auf ganz eigene Art der Auseinandersetzung entziehen, werden die Erzählende und ihre Schwester durch Zustände getrieben, die alle Sicherheiten zerbröseln lassen.
Wir verdrängen und vergessen permanent. Wie beschönigen die Vergangenheit, verklären die Sicht auf unsere Herkunft. Ein Vorgang, der bei der Nachkriegsgeneration durchaus verständlich und vielleicht sogar zum Weiterleben notwendig war. Julia Schochs Protagonistin ist Schriftstellerin, per se eine Person, die zwischen Realität und Fiktion changiert. Und wenn dann ein Ereignis hereinbricht, dass Selbstverständlichkeiten erschüttert, dann bricht ein Sturm los.
Julia Schochs Roman ist kein Protokoll der Geschehnisse. Auch keine Suche nach der Herkunft, ein Geschichte, die klären will. „Das Vorkommnis“ ist eine Auseinandersetzung mit der Auseinandersetzung. Sie spiegelt unseren Umgang mit Vergangenheit, mit Wahrheit, mit Sicherheiten. Julia Schochs Roman reisst mich mit und überzeugt mit der Intensität dieser Auseinandersetzung, ohne irgendwann theoretisch oder abgewandt zu sein. So nah ihr Roman der Protagonistin, ihrer Innenwelt bleibt, so seltsam fern bleiben ihre Kinder, ihr Mann, ihre Mutter und ihr Vater. „Das Vorkommnis“ ist eine Spiegelung, ein Kaleidoskop!
Interview
Da ist dieses Ereignis, diese Frau bei jener Lesung, die Offenbarung, das Geheimnis, das nicht wirklich eines ist. Aber auf dem Buchumschlag des ersten Teils ihrer entstehenden Trilogie steht auch noch „Biographie einer Frau“. Der Titel als Hinweis auf die Handlung, der Untertitel darauf, dass der Hintergrund absolut kein singulärer ist? In allen drei Büchern geht es um Frauen, die Abschied nehmen von bestimmten Vorstellungen von Familie und sich arrangieren müssen mit einer neuen Version ihres Lebens. So, wie man das Leben, die Liebe oder andere Menschen bisher gesehen hat, ist es nicht mehr – die eigene Geschichte muss revidiert werden. Das ist ein oft schmerzhafter Prozess. Man begreift, wer man bisher war, was einen ausgemacht hat, was man für selbstverständlich hielt und was nun nicht mehr selbstverständlich ist und wovon man sich lösen muss. Manchmal geschieht so etwas abrupt, manchmal auch allmählich. Dann ist man wie zu Gast im eigenen Leben. Ich glaube, früher oder später ist jeder Mensch in so einer Situation: Plötzlich sieht man klarer. Die Frage ist, wie wir das einbauen in unser Bild von der Welt oder von uns selbst. Wenn es speziell um das Thema Familie geht, sind es oft Frauen, die sie bauen, sie zusammenhalten, bestimmte Vorstellungen weitertragen und vielleicht auch abhängiger sind von dieser Konstruktion, weil sie so viel Anteil daran haben.
Ich kenne diesen Moment, wenn durch eine tektonische Verschiebung innerhalb einer Familie das Gravitationsfeld durcheinandergerät. Meist stirbt jemand weg. In Ihrem Roman taucht jemand aus dem Vergessen auf. „Familie ist Fiktion“, schreiben Sie. Ein Satz, der Wirkung zeigt. Wo wir doch noch immer mit dem Statement leben „Familie als Grundpfeiler der Gesellschaft“. Ist Familie überbewertet? Egal, ob wir sie als überbewertet empfinden oder nicht, sie schreibt sich von der Geburt an in unser Leben ein. Unsere Herkunft macht uns klar, was wir erwarten dürfen im Leben, worauf wir uns verlassen, welche Wünsche sich lohnen, was wir unter keinen Umständen wiederholen wollen etc. Wir können uns natürlich lösen, wir können es leugnen, verdrängen, wir können das Gegenteil machen, eigene Modelle entwickeln. Aber auf jeden Fall legt sie Spuren in die Zukunft, mal sind es Schnellbahnen, mal holpriges Pflaster. Der Satz im Buch bezieht sich auch darauf, dass wir bestimmte Vorstellungen von den einzelnen Mitgliedern der Familie haben. Wir weisen ihnen Funktionen zu, haben bestimmte Erwartungen an sie, wir malen uns ein Bild. Das alles sagt oft mehr über uns selbst aus als über die anderen. Was den ‚Grundpfeiler‘ betrifft: Manchmal habe ich den Eindruck, in Ermangelung anderer sinnstiftender Gruppen oder „Verbände“, die Visionen in uns entfachen könnten, sind wir oft sehr zurückgeworfen auf die Familie. Es gibt ja auch ganz andere Modelle in der Welt, wie der/ die Einzelne in einem positiven Sinn geprägt und gehalten werden kann. Aber nach den unterschiedlichsten Zusammenlebensutopien des 20. Jahrhundert ist in der westlichen Welt die Familie als Kernzelle „irgendwie übriggeblieben“.
Ihr Roman setzt sich sehr mit dem Prozess des Schreibens auseinander. Einmal lassen Sie Ihre Protagonistin sagen: „Schreiben ist eine Art der Verdrängung, immer.“ Stimmt Julia Schoch der Protagonistin zu? Ja, die Gedanken kommen natürlich aus mir. Es gibt die eine Wahrheit nicht, die man schreibend zutage fördern könnte. Ich nähere mich an, weiss immer schon, dass es auch wieder nur eine Version ist. Die eine geschriebene verdrängt sozusagen hundert andere.
Alle leben in einer Geschichte, in der Geschichte. Wir hüten sie, wir bauen sie. Und wir korrigieren, oft unbewusst. Vielleicht ist der Begriff „Wahrheit“ noch nie so durchscheinend gewesen wie in der Gegenwart. Erschütterungen lassen wir nur ungerne zu. „Das Vorkommnis“ ist die Auseinandersetzung mit Erschütterungen. Warum stellt sich der Mensch solchen so ungern? Wir richten uns ein in bestimmten Geschichten von uns selbst. Sie stabilisieren uns. Familiengeschichten sind eine Art ‚symbolische Verankerung‘ in der Welt, ganz unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht sind. Sogar abwesende Familien haben Prägungskraft. Diese symbolische Verankerung ist weitaus bedeutender als eine materielle. Weil sie etwas darüber erzählt, wer wir sind. Diese Erzählungen sind ein Urbedürfnis des Menschen. Aus dem Grund halten wir es auch für fatal, wenn wir unser Erinnerungsvermögen verlieren. Wir verlieren ohne diese Geschichte, also eine erinnerte Konstruktion, fast jeden Halt.
Das Personal in ihrem Roman bleibt blass. Eine Feststellung, die ich bei anderen Romanen als Kritik aussprechen würde. Bei Ihrem Roman ist das anders. Selbst die Kinder der Protagonisten haben nicht einmal Namen. Ihr Blick ist nach innen gerichtet. Eine heikle Erzählrichtung, weil ich Nabelschauen nicht mag. Aber Ihr Roman ist auch bei weitem keine Nabelschau. Wie sind sie beim Schreiben vorgegangen und welches waren die Eckpfeiler des Erzählens? Ich war selbst verwundert, warum mich das Thema so aufgewühlt hat. Auch das wollte ich erforschen. Da taucht ein neues Familienmitglied auf – wieso wirft einen so was aus der Bahn? Schliesslich leben wir in einer Zeit, in der es fast keine Tabus mehr gibt in Sachen Liebe oder Familie. Unabhängig von meiner persönlichen Geschichte wollte ich herausfinden, mit welchen Vorstellungen von Familie, also von Verwandtschaft und Herkunft, wir leben. Und als ich anfing, darüber nachzudenken, und auch andere dazu befragt habe, bestätigte sich für mich die Notwendigkeit, über mein Unbehagen zu schreiben, denn andere hatten es auf ihre Weise auch. Mir ist beim Schreiben des Buches auch nochmal klar geworden, wie sehr Familien, also kleine Gesellschaften, gewebe-artig zusammenhängen, da ist nichts isoliert, alles ist mit allem verwoben, wir können diese Tatsache eine Zeitlang ausblenden, aber dadurch wird sie nicht hinfällig.
Das Buch ist aber kein klassisches Familienepos und auch keine Abrechnung. Ich wollte einfach sehr genau beschreiben, was dieser Vorfall mit einem macht. Die einzelnen Stufen dieser Erkenntnis genau sezieren. Was ist los, wenn man feststellt: mein bisheriges Bild von mir, meiner Vergangenheit, den Personen, mit denen ich zusammenlebe, stimmt nicht mehr. Dabei bin ich wie über eine Treppe zurück durch mein Leben gegangen und habe mich gefragt: In welcher Situation war ich denn noch blind? Wo bin ich noch getäuscht worden? Das nahm manchmal schon obsessive Formen an. Am Ende ist mir sogar die Liebe selbst verdächtig geworden. Das Phänomen Familie an sich erschien mir absurd. Und das ist natürlich eine Katastrophe. So kann man nicht auf Dauer leben. Deshalb musste ich darüber schreiben, weil ich nicht auf Dauer damit leben konnte.
Julia Schoch wurde 1974 in Bad Saarow geboren und wuchs in Mecklenburg auf. Von 1992 – 98 studierte sie Romanistik und Germanistik in Potsdam, Paris und Bukarest. Sie lebt seit 2003 als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und den André-Gide-Preis. Zuletzt erschien ihr Roman Schöne Seelen und Komplizen bei Piper.