Das 16. Wortlaut Literaturfestival in St. Gallen vom 28. bis 30. März 2025

Wortlaut ist das literarische Frühjahrsereignis der Ostschweiz. 2025 wird es zum 16. Mal durchgeführt und findet vom 28. bis 30. März 2025 statt. Sämtliche Veranstaltungsorte wie Lokremise, Bibliothek Hauptpost und Grabenhalle sind fussläufig erreichbar und liegen bahnhofsnah. Ziel des Literaturfestivals ist es, die vielfältige Welt der Literatur einem breiten Publikum bekanntzumachen.

Wir alle schlagen uns herum mit Schreckensbildern, Katastrophenszenarien oder Zukunftsängsten. Übernimmt am Ende nicht ohnehin die Künstliche Intelligenz die Weltherrschaft? Es ist schwierig, in diesen Zeiten zu hoffen, wenn wir um unsere Demokratie und unsere Erde bangen müssen. Aber es soll nicht düster bleiben, im Gegenteil: Wir sind davon überzeugt, dass es sich lohnt zu «hoffen», auch wenn derzeit viele von uns «bangen». Und wo, wenn nicht in der Literatur, können wir diese Hoffnung finden?

Mit viel Freude laden wir Autor*innen nach St.Gallen ein, die sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Hoffen und Bangen auseinandersetzen. Wie gelingt es uns, als Gesellschaft wieder zusammenzurücken? Nur über gutes Streiten, davon ist die Philosophin Svenja Flasspöhler überzeugt. Gemeinsam mit Barbara Bleisch und der Band Hekto Super eröffnet sie das Wortlaut 2025.

Neben ganz wunderbaren Autor*innen, die am Samstag und Sonntag aus ihren Büchern lesen, setzen wir den Schwerpunkt genau darauf: auf Gespräche und den Austausch. Peter Stamm bekommt von uns die Carte blanche. Verleger*innen diskutieren über die Zukunft des Buches. Zwei Autorinnen aus zwei Generationen geben im Rahmen eines Werkstattgesprächs Einblicke in ihr Schaffen. Eine Uni-Seminargruppe und eine Gymnasialklasse bestreiten jeweils eine Veranstaltung mit Autor*innen, die sie selber eingeladen haben.

Mit Buslesungen und einem literarischen Stadtspaziergang wollen wir Ihnen eine Reise ermöglichen, die ausnahmsweise nicht nur im Geiste stattfindet.

Gemeinsam werden wir an diesem Wochenende gute Gründe finden, warum es trotz allem Anlass zur Hoffnung gibt.

Wortlaut ist zurück. Wir freuen uns auf Sie, liebes Publikum!

Infos zum Wortlaut

Julia Schoch «Wild nach einem wilden Traum», dtv – Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Unter dem Titel „Biographie einer Frau“ ist „Wild nach einem wilden Traum“ der letzte Band einer Trilogie. Nach „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ über Liebe und Herkunft und «Das Vorkommnis“ über Partnerschaft und Ehe ist der dritte Teil ein Roman über die Leidenschaft, über die Liebe – vor allem über jene zum Schreiben.

Sie wird ganz überraschend, anstelle eines verhinderten Kollegen, für ein paar Wochen in eine Künstlerkolonie im Norden der USA, zwei Stunden mit dem Auto von New York, eingeladen. Fast ein Dutzend KünstlerInnen, die meisten Schriftsteller. Am ersten Abend sitzt man im geräumigen Aufenthaltsraum im Haupthaus in grosser Runde, stellt sich vor und erzählt von der Arbeit, an der man in den Tagen an diesem stillen Ort weitermachen will. In der Runde sitzt A., ein spanischer Schriftsteller, der sich aber ganz dezidiert als Catalane zu erkennen gibt, obwohl er spanisch schreibt. Ein Mann, der sie vom ersten Moment weg fasziniert und einnimmt. Obwohl sie von sich selbst behaupten würde, sie sei glücklich verheiratet, auch wenn die Schriftstellerei, das Schreiben für ihren Mann immer mehr zu einer Konkurrenz wurde.

Immer habe ich nach Worten gesucht, nach dem einen, dem richtigen. Vielleicht beginnt man deshalb zu schreiben.

Zwischen A. und ihr entwickelt sich eine Leidenschaft, ein Kippzustand zwischen den beiden Zuständen, der Hingabe an das Schreiben und jene an diesen Mann. Zwei Zustände, die sich gegenseitig beflügeln, Bilder aus der Vergangenheit provozieren, die sie vergessen glaubte. Vor allem dieses eine, als sie als Mädchen in den Streifzügen im Wald rund um die Kaserne, in der junge Rekruten stationiert waren, einen jungen Soldaten trifft, der auf einem Baumstamm sitzt und zuerst erklärt, er sammle Pilze. Das, was für mich auf den ersten Blick nach einer heiklen Begegnung aussieht, wird sowohl für den jungen Mann wie für das Mädchen eine Aneinanderreihung wichtiger Momente. Dort treffen sie sich immer wieder. Dort entsteht ein Raum, der sich von den anderen Räumen unterscheidet. So wie die Räume des Schreibens in ihrem späteren Leben auch. Zwischen den beiden wächst ein Etwas zwischen Leidenschaft und Freundschaft, eine Insel.

Julia Schoch «Wild nach einem wilden Traum», dtv, 176 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-423-28425-7

Sie, die mit keiner Vorstellung in diese Künstlerkolonie kam, worüber sie schreiben könnte, erinnert sich an den Soldaten zurück. Ihm erzählte sie von ihrem Traum, dereinst Schriftstellerin zu werden. Und er, der junge Mann, war es, der ihr sagte: Du schaffst es, bestiummt. Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum. Ein Satz, den er zweimal wiederholte. Ein Satz, den die Frau mantramässig in ihrem Leben immer wieder zu sich selber sagte. Ein Satz, der seine Wirkung bis in die Tage in jener Kolonie entfaltet, in ihrer Leidenschaft für den Catalanen. 

Aber auch die Begegnung mit dem Catalanen ist Erinnerung. Sie schreibt sich in jene Momente, weil ihr bewusst wird, wie sehr sich alles auf ihr Schreiben auswirkte, die scheinbar einzige Entscheidung in ihrem Leben, die sie wirklich gefällt hatte. In einem Leben, in dem sie einfach immer weitergegangen war, weit weg von der Vorstellung, man stehe irgendwann an einer Gabelung oder Kreuzung und entscheide sich ganz bewusst und nach langer Überlegung für eine Richtung, für eine Richtungsänderung. Sie erinnert sich ihrer Kindheit, ihrer Herkunft. Warum die Liebe zu ihrem Mann stumpf und blass geworden ist. Warum die Hinwendung zum Schreiben, die Sehnsucht Schriftstellerin zu sein, Heimat geworden ist und die Leidenschaft zu einem Mann bloss Aufenthalt.

Jedes Menschenleben ist angefüllt mit Geschehnissen, die in den Falten des Gedächtnisses lagern. Und in jedes einzelne Geschehnis hineingehalten sind noch weitere.

Julia Schochs Romane entlarven die Gegenwart, spiegeln ein Lebensgefühl der permanenten Suche, diesen Drang, sich zu bewegen, sich mitreissen zu lassen. Rasch fertig werden, um Zeit für das Eigentliche zu haben: den Wahn der Liebe. So gar nicht das, was man mit dem Modewort „Achtsamkeit“ zu verkaufen versucht. „Wild nach einem wilden Traum“ ist ein gnadenlos ehrliches Buch. Nicht zuletzt ein Buch über das Schreiben, über Julia Schochs Schreiben. Darüber, wie sehr sich Begegnungen auf das eigene Tun auswirken, oft tief verborgen im Unterbewusstsein. Und vielleicht ist es eben diese Fähigkeit einer Schriftstellerin, dass sie sich dessen bewusst ist, dass sie in den Sedimenten ihres Lebens nach jenen Einschliessungen sucht, die bis in die Gegenwart wirken. So wie jener eine Moment, als der junge Mann, jener Rekrut, den sie immer wieder im Wald traf und treffen wollte, sie küsste. Nicht auf den Mund, aber an ihrem Handgelenk. Eine Erinnerung, die zur Erzählung werden musste.

Julia Schochs Schreiben, ihr Erzählen, unterscheidet sich grundlegend von den meisten anderen Romanen der Gegenwart; Julia Schoch erzählt weniger eine Geschichte, als Lebenszustände, Marksteine, Innenwelten. Und das in einer Offenheit, die mich tief bewegt.

Was ich in der Trilogie erzähle? Dass wir unterschiedliche Rollen im Leben haben und nie genau wissen, was wir für andere sind. In den drei Büchern möchte ich Gerechtigkeit walten lassen. Ein Wunschtraum, vielleicht. Aber ein schöner. Julia Schoch

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in Eggesin in Mecklenburg, gilt als Virtuosin des Erinnerungserzählens (FAZ). Zuletzt veröffentlichte sie die Romane «Das Vorkommnis» und «Das Liebespaar des Jahrhunderts» als die ersten beiden Bände ihrer Trilogie «Biographie einer Frau». 2022 wurde ihr die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen, 2023 der Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen, 2024 der Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreis. Sie lebt in Potsdam.

Webseite des Autorin

Beitragsbild © Jürgen Bauer

«Die Literaturrunde» bei Tele D – eine Lanze fürs Wortlaut Literaturfestival

Es gibt sie nicht nur in den grossen staatlichen Fernsehgiganten, sondern auch in den «kleinen», die ganz und gar von der Leidenschaft einer eingeschworenen Betreiberschaft getragen werden. «Die Literaturrunde», von Jeanette Bergner mit Kompetenz und Begeisterung moderiert, ist über die letzten Jahre zu einem fixen Sendebestandteil des Privatsenders Tele D geworden. Erstaunlich genug, wo doch in Deutschland vergleichbare Formate «aus Spargründen» abgesetzt werden.

letzte Absprachen zwischen Gallus Frei, Literaturvermittler und Co-Leiter des Wortlaut Literaturfestivals, Jeanette Bergner, Moderatorin und Ariane Novel, Lektorin, Ghostwriterin und Co-Leiterin des Wortlaut Literaturfestivals St. Gallen

«Umlaufbahnen» von Samantha Harvey: Was die Schriftstellerin literarisch schafft, ohne einen einzigen Besuch in einer solchen Kapsel abgestattet zu haben, mit blosser Imagination und sogfältiger Recherche ist ausserordentlich. Was sie daraus macht ebenso. Jene Erfurcht, die Weltraumfahrende immer wieder beim Anblick unserer Erde erfasst, springt über. Was Samantha Harvey erzählt, hat durchaus eine mahnende Komponente, obwohl Samantha Harvey nicht moralisiert. Aber was wohl das Verblüffendste an diesem Roman ist, dass ich als Leser ihre Freude an der Sprache spüre, ihre verschriftlichte Leidenschaft, die sie so beschreibt. «Dieses Gefühl, dass mir der Atem stockt und ich schwebe, das wollte ich zu Papier bringen. Es war pure Freude, diesen Roman zu schreiben, reiner Eskapismus. Ich wollte nicht, dass er endet.»

Kameramann Joel Reisinger

Wild nach einem wilden Traum von Julia Schoch: Ihre Romane entlarven die Gegenwart, spiegeln ein Lebensgefühl der permanenten Suche, diesem Drang, sich zu bewegen, sich mitreissen zu lassen. Rasch fertig werden, um Zeit für das Eigentliche zu haben: den Wahn der Liebe. So gar nicht das, was man mit dem Modewort „Achtsamkeit“ zu verkaufen versucht. „Wild nach einem wilden Traum“ ist ein gnadenlos ehrliches Buch. Nicht zuletzt ein Buch über das Schreiben, über Julia Schochs Schreiben. Darüber, wie sehr sich Begegnungen auf das eigene Tun auswirken, oft tief verborgen im Unterbewusstsein. Und vielleicht ist es eben diese Fähigkeit einer Schriftstellerin, dass sie sich dessen bewusst ist, dass sie in den Sedimenten ihres Lebens nach jenen Einschliessungen sucht, die bis in die Gegenwart wirken.»

«Zwei Leben» von Ewald Arnez: Was den Reiz des Buches ausmacht, ist seine Sinnlichkeit. Ewald Arenz beschreibt derart leidenschaftlich und innig, dass ich als Leser die Landschaft riechen kann. Aber auch die Sinnlichkeit in den Gefühlen des Personals, in diesen zwei Leben dieser beiden so unterschiedlichen Frauen; Roberta und Gertrud. Oder im klaffenden Gegensatz zwischen den Auswirkungen der 68er und einer bäuerlichen Tradition, die erst auf Änderungen aufsteigt, wenn es nicht zu vermeiden ist. Ewald Arenz weiss genau, wovon er schreibt. Er schöpft aus der Atmosphäre seiner eigenen Herkunft – und tut dies mit Wonne.

Klicken Sie auf das untenstehende Bild, dann können Sie in «Die Literaturrunde» hineinschauen:

ph.neff@schliff.ch

Beitragsbilder © Philipp Neff

Julia Schoch «Das Liebespaar des Jahrhunderts», dtv

„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ meint jedes Liebespaar des letzten Jahrhunderts. Julia Schochs zweiter Roman einer Trilogie beschreibt die Mechanismen einer Partnerschaft derart entlarvend, als wäre ihr Schreiben in ein grelles, blau schimmerndes Neonlicht getaucht. Ein schonungsloser Roman über den Schattenwurf eines institutionalisierten Lebenstraums.

Sie kennen das; Sie schauen in einen fremden Spiegel, in einem Raum, dessen Licht die kleinste Pore in ihrem Gesicht zeigt, der ein Spiegelbild offenbart, das einem zweifeln, das den kalten Schauer der Ernüchterung über den Rücken kriechen lässt, die leise Ahnung darüber, wie leicht man sich von Idealen betäuben, von Fassaden blenden, von Ernüchterungen verstummen lässt.

Eine Frau erzählt von ihrer Ehe. 30 Jahre ist sie verheiratet und in einer Beziehung geblieben, die sich wie ein nur noch schwer manövrierbares Schiff immer weiter von allen Küsten entfernt. Eigentlich hatte sie schon längst die Absicht, jene drei Wörter loszuwerden, die dieser Ehe endlich ein Ende mit Schrecken setzen würden. Aber aus der Jahrzehnte lang verschobenen Absicht wird ein romanlanger Erklärungsversuch darüber, was Beziehungen anrichten, die sich institutionell in Gewohnheiten und gegenseitigen Abhängigkeiten verloren haben. „Ich verlasse dich“ – so kurz wie die drei Worte, die meist zu Beginn einer Beziehung stehen; „Ich liebe dich“.

Julia Schoch «Das Liebespaar des Jahrhundert», dtv, 2023, 192 Seiten, CHF 32.90 ISBN 978-3-423-28333-5

Vielleicht erklärt sich der Umstand, dass sie bleibt, darin, dass das Abwägen zwischen Vor- und Nachteilen, zwischen Verlust und Gewinn über die meiste Zeit ein unentschiedenes ist. Das, was zu Beginn jeder Ehe, jeder offiziell gemachter Beziehung als Leidenschaft und Zustand des Verliebtseins, Herz und Verstand in Wallung versetzte, verändert sich mit der Zeit, erst recht in einer amtlich gewordenen Ehe, einem Konstrukt, das selbst mit grösster Anstrengung nicht so einfach beendet werden kann. Die Gründe warum man bleibt und eben diese drei Worte „Ich verlasse Dich“ nicht ausspricht, sind so vielfältig wie das, was Menschen bei einer Ehe einander hinter diesem „Ja“ versprechen. So wie im Roman von Julia Schoch, eigentlich ein buchlanger Monolog: „Du warst seit langem der erste Mensch in meinem Leben, der nicht sofort wieder verschwinden wollte.“

„Ich dachte: Das wird nicht mehr gut. Aber es ging einfach weiter.“

Sie erinnert sich an die Zeit, als sie sich während des gemeinsamen Studiums kennen lernten. An die Zeit, in der alles wie ein Wunder erschien, der Himmel golden schimmerte und man sich diesem ganz nah fühlte. Sie beide wuchsen in der DDR auf, einer Diktatur, und die Liebe war nicht nur ein unendlich weites Land, das man zu zweit entdecken wollte, sondern Rückzugsort und Bastion in einem System, das omnipräsent kontrollieren wollte. Die Liebe versprach ein gemeinsames Abenteuer. Aber mit dem gemeinsamen Weg wächst nicht nur das Reservoir an überstandenen Prüfsteinen, sondern jenes vieler kleiner und grosser Verletzungen, nicht zuletzt von Selbstverletzungen. Was zu Beginn nur Gefühl, Leidenschaft, Glück war, wird im Zusammenleben in einer Wohnung, im Teilen der Aufgaben, mit einer Familie, den Kindern, all den Pflichten nach innen und nach aussen zu einem feinmaschigen Konstrukt von Erwartungen und Mechanismen.

„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ist eine erzählte Liste all der Gründe, warum es dreissig Ehejahre wurden, obwohl es eine lange Kette von Momenten gab, die ihr genügend Gründe geliefert hätten, einen Punkt zu machen. Julia Schoch hält mir selbst einen Spiegel hin, leuchtet mit bläulich grellem Neonlicht in die Winkel, die wir gerne im Dämmer lassen. Manche Szene, mancher Gedankengang war wie ein Schlag in die Kniekehle. Sie entblösst, reisst alle Maskerade, alle falschen Fassaden weg. Aus der Lektüre tauchen Gedanken, die das eigene Verdrängen bis über Schmerzgrenzen hinaus spiegeln. Schlussendlich bleibt ihre Gewissheit: „Jeder lebt sein Leben.“

Ein Roman, der nicht umgarnen will. Aber ein Roman, der mich staunen lässt, nicht nur inhaltlich, nicht nur über seine Wirkung, auch über den Mut dieser Autorin!

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau». Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.

Rezension (und Interview) von «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bogenberger Autorenfotos

Julia Schoch «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau», dtv

Sind Sie sich sicher? Beschleicht Sie manchmal der Zweifel? Hatten Sie als Kind auch jenen Moment, an dem sie mit einem Mal die Sicherheit verloren, ob jene Frau und jener Mann wirklich Mutter und Vater sind? Julia Schoch beschreibt in „Das Vorkommnis“ einen Moment, der das Gravitationsfeld eines ganzen Lebens verschiebt.

Ihre Protagonistin ist Schriftstellerin, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Das Leben nimmt seinen Lauf, ist geregelt, auch wenn ihr Vater im Krankenhaus liegt und es den Anschein macht, als würde er nicht von dort zurückkehren. Nach einer Lesung im Kulturhaus einer norddeutschen Stadt tritt eine Frau an ihren Tisch, schiebt ihr Buch zum Signieren hin und während die Schriftstellerin zu schreiben beginnt, fällt der Satz: „Wir haben übrigens denselben Vater.“ Der Füller entgleitet und zieht eine Line quer durch die Seite. Ein Schock. Aber statt in Starre zu verfallen angesichts jener, die noch auf eine Signatur warten, steht sie auf und fällt der wildfremden Frau schluchzend um den Hals.

«Familie ist Fiktion.»

Eine Zäsur. Julia Schochs Roman dreht sich um diesen einen Moment, erzählt von den Kurzzeit- und Langzeitfolgen, beschreibt die Tsunamiwelle und deren Auswirkungen, wie sehr sich Sicherheiten in Verunsicherungen drehen, wie ein Leben im Konjunktiv zu wanken beginnt, wie sich ein einziger Satz zu einer Wolke verdichtet, die alles einnimmt. Obwohl sie wusste, dass ihr Vater vor seiner Heirat mit ihrer Mutter eine Beziehung hatte, aus der ein Kind hervorging, erschüttert sie die Begegnung bis ins Mark. Obwohl da vor langer Zeit einmal ein Zettel war, den die Mutter in der Jacke des Vaters fand, ein Zahlungsnachweis für Alimente, reisst der Satz einen schweren Vorhang herunter, den man in der Familie mit Bedacht über dieses eine Kapitel gehängt hatte. Aber wie in allen Biographien, in allen Leben; das eine macht man zur Familiengeschichte, immer und immer wieder erzählt und zelebriert. Und anderes schiebt man in dunkle Winkel, bemüht darum, dass sie nie mehr in den Lichtschein einer unbedachten Aufmerksamkeit geraten.

Julia Schoch «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau», dtv, 2022, 192 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-423-29021-0

Gegen Aussen bleibt sie die Alte, nimmt eine Einladung einer us-amerikanischen Universität an uns fliegt mit den beiden Kindern und der Mutter in die Staaten. Mutter und Vater sind längst geschieden. Sie doziert, schreibt und lebt sich im Campus ein. Aber innerlich brodelt es, nimmt die Tatsache, dass sich jene Frau aus dem Dunkel des Vergessens traute, jede einzelne Faser ihres Denken und Handelns ein. Da ist ein Leben, das ihr verborgen bleibt. Eine Halbschwester. Eine andere Mutter, die dieses Kind damals zur Adoption freigab, es weggab. Ein Vater, ihr Vater, der sich dem Kind verweigerte. Ein Vater, den sie nicht mehr stellen konnte, der sich von ihr durch seine Krankheit, sein Alter entfernte. Julia Schoch beschreibt diese Familie als Quadrat mit ziemlich langen Seiten. Aber mit einem Mal ist dieses Quadrat aufgerissen, ein Fundament ihres Seins weggerutscht. Während sich ihre Eltern auf ganz eigene Art der Auseinandersetzung entziehen, werden die Erzählende und ihre Schwester durch Zustände getrieben, die alle Sicherheiten zerbröseln lassen.

Wir verdrängen und vergessen permanent. Wie beschönigen die Vergangenheit, verklären die Sicht auf unsere Herkunft. Ein Vorgang, der bei der Nachkriegsgeneration durchaus verständlich und vielleicht sogar zum Weiterleben notwendig war. Julia Schochs Protagonistin ist Schriftstellerin, per se eine Person, die zwischen Realität und Fiktion changiert. Und wenn dann ein Ereignis hereinbricht, dass Selbstverständlichkeiten erschüttert, dann bricht ein Sturm los.

Julia Schochs Roman ist kein Protokoll der Geschehnisse. Auch keine Suche nach der Herkunft, ein Geschichte, die klären will. „Das Vorkommnis“ ist eine Auseinandersetzung mit der Auseinandersetzung. Sie spiegelt unseren Umgang mit Vergangenheit, mit Wahrheit, mit Sicherheiten. Julia Schochs Roman reisst mich mit und überzeugt mit der Intensität dieser Auseinandersetzung, ohne irgendwann theoretisch oder abgewandt zu sein. So nah ihr Roman der Protagonistin, ihrer Innenwelt bleibt, so seltsam fern bleiben ihre Kinder, ihr Mann, ihre Mutter und ihr Vater. „Das Vorkommnis“ ist eine Spiegelung, ein Kaleidoskop!

Interview

Da ist dieses Ereignis, diese Frau bei jener Lesung, die Offenbarung, das Geheimnis, das nicht wirklich eines ist. Aber auf dem Buchumschlag des ersten Teils ihrer entstehenden Trilogie steht auch noch „Biographie einer Frau“. Der Titel als Hinweis auf die Handlung, der Untertitel darauf, dass der Hintergrund absolut kein singulärer ist?
In allen drei Büchern geht es um Frauen, die Abschied nehmen von bestimmten Vorstellungen von Familie und sich arrangieren müssen mit einer neuen Version ihres Lebens. So, wie man das Leben, die Liebe oder andere Menschen bisher gesehen hat, ist es nicht mehr – die eigene Geschichte muss revidiert werden. Das ist ein oft schmerzhafter Prozess. Man begreift, wer man bisher war, was einen ausgemacht hat, was man für selbstverständlich hielt und was nun nicht mehr selbstverständlich ist und wovon man sich lösen muss. Manchmal geschieht so etwas abrupt, manchmal auch allmählich. Dann ist man wie zu Gast im eigenen Leben. Ich glaube, früher oder später ist jeder Mensch in so einer Situation: Plötzlich sieht man klarer. Die Frage ist, wie wir das einbauen in unser Bild von der Welt oder von uns selbst. Wenn es speziell um das Thema Familie geht, sind es oft Frauen, die sie bauen, sie zusammenhalten, bestimmte Vorstellungen weitertragen und vielleicht auch abhängiger sind von dieser Konstruktion, weil sie so viel Anteil daran haben. 

Ich kenne diesen Moment, wenn durch eine tektonische Verschiebung innerhalb einer Familie das Gravitationsfeld durcheinandergerät. Meist stirbt jemand weg. In Ihrem Roman taucht jemand aus dem Vergessen auf. „Familie ist Fiktion“, schreiben Sie. Ein Satz, der Wirkung zeigt. Wo wir doch noch immer mit dem Statement leben „Familie als Grundpfeiler der Gesellschaft“. Ist Familie überbewertet?
Egal, ob wir sie als überbewertet empfinden oder nicht, sie schreibt sich von der Geburt an in unser Leben ein. Unsere Herkunft macht uns klar, was wir erwarten dürfen im Leben, worauf wir uns verlassen, welche Wünsche sich lohnen, was wir unter keinen Umständen wiederholen wollen etc. Wir können uns natürlich lösen, wir können es leugnen, verdrängen, wir können das Gegenteil machen, eigene Modelle entwickeln. Aber auf jeden Fall legt sie Spuren in die Zukunft, mal sind es Schnellbahnen, mal holpriges Pflaster. Der Satz im Buch bezieht sich auch darauf, dass wir bestimmte Vorstellungen von den einzelnen Mitgliedern der Familie haben. Wir weisen ihnen Funktionen zu, haben bestimmte Erwartungen an sie, wir malen uns ein Bild. Das alles sagt oft mehr über uns selbst aus als über die anderen. Was den ‚Grundpfeiler‘ betrifft: Manchmal habe ich den Eindruck, in Ermangelung anderer sinnstiftender Gruppen oder „Verbände“, die Visionen in uns entfachen könnten, sind wir oft sehr zurückgeworfen auf die Familie. Es gibt ja auch ganz andere Modelle in der Welt, wie der/ die Einzelne in einem positiven Sinn geprägt und gehalten werden kann. Aber nach den unterschiedlichsten Zusammenlebensutopien des 20. Jahrhundert ist in der westlichen Welt die Familie als Kernzelle „irgendwie übriggeblieben“.   

Ihr Roman setzt sich sehr mit dem Prozess des Schreibens auseinander. Einmal lassen Sie Ihre Protagonistin sagen: „Schreiben ist eine Art der Verdrängung, immer.“ Stimmt Julia Schoch der Protagonistin zu?
Ja, die Gedanken kommen natürlich aus mir. Es gibt die eine Wahrheit nicht, die man schreibend zutage fördern könnte. Ich nähere mich an, weiss immer schon, dass es auch wieder nur eine Version ist. Die eine geschriebene verdrängt sozusagen hundert andere.

Alle leben in einer Geschichte, in der Geschichte. Wir hüten sie, wir bauen sie. Und wir korrigieren, oft unbewusst. Vielleicht ist der Begriff „Wahrheit“ noch nie so durchscheinend gewesen wie in der Gegenwart. Erschütterungen lassen wir nur ungerne zu. „Das Vorkommnis“ ist die Auseinandersetzung mit Erschütterungen. Warum stellt sich der Mensch solchen so ungern?
Wir richten uns ein in bestimmten Geschichten von uns selbst. Sie stabilisieren uns. Familiengeschichten sind eine Art ‚symbolische Verankerung‘ in der Welt, ganz unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht sind. Sogar abwesende Familien haben Prägungskraft. Diese symbolische Verankerung ist weitaus bedeutender als eine materielle. Weil sie etwas darüber erzählt, wer wir sind. Diese Erzählungen sind ein Urbedürfnis des Menschen. Aus dem Grund halten wir es auch für fatal, wenn wir unser Erinnerungsvermögen verlieren. Wir verlieren ohne diese Geschichte, also eine erinnerte Konstruktion, fast jeden Halt.

Das Personal in ihrem Roman bleibt blass. Eine Feststellung, die ich bei anderen Romanen als Kritik aussprechen würde. Bei Ihrem Roman ist das anders. Selbst die Kinder der Protagonisten haben nicht einmal Namen. Ihr Blick ist nach innen gerichtet. Eine heikle Erzählrichtung, weil ich Nabelschauen nicht mag. Aber Ihr Roman ist auch bei weitem keine Nabelschau. Wie sind sie beim Schreiben vorgegangen und welches waren die Eckpfeiler des Erzählens?
Ich war selbst verwundert, warum mich das Thema so aufgewühlt hat. Auch das wollte ich erforschen. Da taucht ein neues Familienmitglied auf – wieso wirft einen so was aus der Bahn? Schliesslich leben wir in einer Zeit, in der es fast keine Tabus mehr gibt in Sachen Liebe oder Familie. Unabhängig von meiner persönlichen Geschichte wollte ich herausfinden, mit welchen Vorstellungen von Familie, also von Verwandtschaft und Herkunft, wir leben. Und als ich anfing, darüber nachzudenken, und auch andere dazu befragt habe, bestätigte sich für mich die Notwendigkeit, über mein Unbehagen zu schreiben, denn andere hatten es auf ihre Weise auch. Mir ist beim Schreiben des Buches auch nochmal klar geworden, wie sehr Familien, also kleine Gesellschaften, gewebe-artig zusammenhängen, da ist nichts isoliert, alles ist mit allem verwoben, wir können diese Tatsache eine Zeitlang ausblenden, aber dadurch wird sie nicht hinfällig. 

Das Buch ist aber kein klassisches Familienepos und auch keine Abrechnung. Ich wollte einfach sehr genau beschreiben, was dieser Vorfall mit einem macht. Die einzelnen Stufen dieser Erkenntnis genau sezieren. Was ist los, wenn man feststellt: mein bisheriges Bild von mir, meiner Vergangenheit, den Personen, mit denen ich zusammenlebe, stimmt nicht mehr. Dabei bin ich wie über eine Treppe zurück durch mein Leben gegangen und habe mich gefragt: In welcher Situation war ich denn noch blind? Wo bin ich noch getäuscht worden? Das nahm manchmal schon obsessive Formen an. Am Ende ist mir sogar die Liebe selbst verdächtig geworden. Das Phänomen Familie an sich erschien mir absurd. Und das ist natürlich eine Katastrophe. So kann man nicht auf Dauer leben. Deshalb musste ich darüber schreiben, weil ich nicht auf Dauer damit leben konnte. 

Julia Schoch wurde 1974 in Bad Saarow geboren und wuchs in Mecklenburg auf. Von 1992 – 98 studierte sie Romanistik und Germanistik in Potsdam, Paris und Bukarest. Sie lebt seit 2003 als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und den André-Gide-Preis. Zuletzt erschien ihr Roman Schöne Seelen und Komplizen bei Piper.

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Beitragsbild © Jürgen Bauer