Diesen Monat erscheint Peter Stamms neuster Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“. Grund genug, seinen ersten Roman, der bei Erscheinen seines neuen vor 20 Jahren Kritiker und Leser ins Staunen versetzte, „Agnes“ noch einmal zu lesen. Damals war „Agnes“ eine literarische Überraschung. Heute ist „Agnes“ Schullektüre, so etwas wie ein Klassiker. Und der Film vom Regisseur Johannes Schmid?
Agnes ist Physikstudentin in Dallas. Sie schreibt an einer Dissertation über die «Symmetrien der Symmetriegruppen von Kristallen». In der gleichen Bibliothek der Universität recherchiert ein doppelt so alter Mann über amerikanische Luxuseisenbahnen. Eine Auftragsarbeit. Die beiden kommen sich schnell näher. Als Agnes erfährt, dass er sich einst auch mit Prosa versuchte, fordert ihn Agnes auf, eine Geschichte über sie zu schreiben. Mehr aus Gefälligkeit, vielleicht auch um Agnes Eindruck zu machen, beginnt er wirklich zu schreiben. Über Agnes, über sie beide, über das Aufkeimen einer Beziehung. Aber beide bleiben einander ein Geheimnis. Agnes bleibt fahrig, von Stimmungen getrieben, er ist mehr verunsichert als verliebt, angezogen von der Abenteuerlust eines kühlen Entdeckers. Eines Tages öffnet er mit Agnes Schlüssel ihre Wohnung, bleibt eine Weile, beginnt zu schreiben, kramt in den Sachen, sieht den einzigen Schmuck an der Wand, ein Poster mit einer Figur des Künstlers Kokoschka mit dem Titel «Mörder, Hoffnung der Frauen», die Karte eines Freundes und in einer Schublade Tabletten. Während die Geschichte um Agnes auf Papier immer weiter gesponnen wird, er Idylle spriessen lässt, wird die Beziehung der beiden immer gereizter. Erst recht, als Agnes ihm erklärt, sie sei schwanger. Erst recht, als er darauf nicht mit Freude reagiert. Während sie enttäuscht und zornig seine Wohnung verlässt, sie, die schon von ihrer eigenen Familie abgeschnitten lebt, bleibt er, paralysiert, perplex. Er schreibt weiter, in verschiedenen Varianten. So, dass es für den Leser nie ganz klar ist, auf welche Seite die Geschichte nun wirklich kippt.
Der erste Satz im Roman ist: Agnes ist tot. Eigentlich gibt es keinen Zweifel. Und doch gelingt es Buch und Film, ein eigentliches Vexierbild entstehen zu lassen. Film und Buch schaffen es, viel mehr nicht zu erzählen und nur anzudeuten, als es bis in die Feinheiten auszumalen. Peter Stamm deutet vieles nur an, lässt mehr Leerstellen, Lücken, genug Raum für Mutmassungen und Interpretationen. Vielleicht liegt genau hier der Grund, dass der Erstling von Peter Stamm zur Mittelschul- und Hochschullektüre im In- und Ausland gehört.
«Agnes» erzählt von der Einsamkeit der Menschen. Da sind zwei, die lieben und doch nicht zueinander finden. Da sind zwei, die in einer Grossstadt leben, aber weitgehend isoliert sind. Alles scheint sich nur um die Individuen zu drehen. Es bleibt spürbar kalt. Nicht nur weil Agnes nachts in den Schnee hinausgeht und sich entkleidet. Ein unterkühltes Erzählen, dass man Peter Stamm auch in seinen folgenden Büchern nachsagt.
Buch und Film lohnen sich auf jeden Fall. Ich mag es, wenn ich mit einer ordentlichen Portion Ratlosigkeit zurückgelassen werde. Warum sollen Geschichten alles erklären, alles zu deuten versuchen. Das Leben lässt genauso Lücken, Unerklärliches, Unfertiges, bloss Begonnenes.
Ich bin gespannt auf den neuen Roman von Reter Stamm!
Eine Inhaltsangabe des neuen Romans, der im kommenden Februar erscheinen soll: Christoph verabredet sich in Stockholm mit der viel jüngeren Lena. Er erzählt ihr, dass er vor 20 Jahren eine Frau geliebt habe, die ihr ähnlich, ja, die ihr gleich war. Er kennt das Leben, das sie führt, und weiß, was ihr bevorsteht. So beginnt ein beispiellos wahrhaftiges Spiel der Vergangenheit mit der Gegenwart, aus dem keiner unbeschadet herausgehen wird.
Können wir unserem Schicksal entgehen oder müssen wir uns abfinden mit der sanften Gleichgültigkeit der Welt? Peter Stamm erzählt auf kleinstem Raum eine andere Geschichte der unerklärlichen Nähe, die einen von dem trennt, der man früher war. (aus der Vorschau des Verlags)
160 Seiten, bei S. Fischer, ab 22. Februar im Buchhandel, am 21. Februar Buchtaufe im Kaufleuten Zürich, Moderation Jennifer Khakshouri
Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt ›Agnes‹ 1998 erschienen fünf weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane ›Nacht ist der Tag‹ und ›Weit über das Land‹ sowie unter dem Titel ›Die Vertreibung aus dem Paradies‹ seine Bamberger Poetikvorlesungen.