Amelia Earhart war eine Pionierin, zweifellos. Als erste Pilotin reihte sie Rekord an Rekord. 1921 nahm sie mit 24 erste Flugstunden, sechs Monate später stellte sie den ersten Höhenrekord auf. Man feierte sie über die USA hinaus nicht nur wegen ihrer Fliegerei als Heldin, sondern weil sie sich kaum um Konventionen kümmerte und damit zum Idol einer ganzen Frauengeneration wurde. Jo Lendle schrieb mit «Die Himmelsrichtungen» einen äusserst feinfühligen Roman über eine Ikone.
Wahrscheinlich ist es gut, dass ein Mann dieses Buch schrieb. Somit ist es kein «Frauenbuch», was es tatsächlich nicht ist. «Die Himmelsrichtungen» ist ein Buch über eine Sorte Menschen, die sich nicht um ungeschriebene Gesetze schert. Sie wollte ihr Leben leben, ganz. Auch eine typische Biographie der Zwischenkriegszeit, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Als sich diese Gattung Mensch um nichts anderes kümmerte, als um sich selbst – um jeden Preis einen Platz für die Ewigkeit ergattern. Heute begegnet man dieser Art Mensch um ein vielfaches kritischer, auch weil die Anzahl derer, die mit ihren finanziellen Mitteln die Welt kaufen, immer grösser wird. Das Gedränge am Mount Everest ist sinnbildlich dafür. Damals waren es wenige und sie wurden vergöttert. Heute sind es viele und sie werden mit Argwohn kommentiert.
«Mir ist es nie darum gegangen, irgendwo anzukommen. Vielleicht misstraute ich der Idee einer Ankunft: Vielleicht genoss ich auch einfach den Zwischenraum.»

Von ihrem letzten Abenteuer, kurz vor ihrem 40. Geburtstag, sie wollte als erster Mensch überhaupt die Erde mit ihrer «Electra» am Äquator entlang umrunden, blieb nichts, nicht einmal ein Notruf. Amelia Earhart verschwand mit ihrem Navigator irgendwo im Pazifik, tauchte nicht auf, wo ein Versorgungsschiff und eine ganze Crew die beiden erwartete. Die grösste je organisierte Suchaktion mit verschiedensten Schiffen und Flugzeugen versuchte das Flugzeug und ihre Insassen zu finden – ohne Erfolg.
Amelia Earhart wusste um das grosse Risiko, zumal die technischen Möglichkeiten damals bei weitem nicht dem entsprachen, was man heute als Standart nimmt. Sie koketierte mit dem Risiko. Und eben dieses Risiko war es, das sie weit über ihr Schicksal hinaus bis heute zu einer Heldin macht, einer Figur, die sich nicht bremsen lässt, weder durch Technik und schon gar nicht durch Konventionen.
«Es ist nicht leicht, eine Heldin zu sein.»
Amelia Earhart entsprach in vielem nicht dem damals gängigen Frauenbild. Nicht nur in der Art, wie sie mit körperlichen und technischen Herausforderungen umging, auch im Umgang mit ihrem Gegenüber, mit ihrer Publizität – und nicht zuletzt mit Männern. Man(n) musste sie so nehmen, wie sie war. Das galt für die Liebe genauso wie für Geschäftspartner, für Prominente wie für Teammitglieder. So faszinierend wie ihr unstillbarer Hunger nach Rekorden, ihre Lust, nicht dem zu entsprechen, was man sonst von Frauen erwartete. Und doch tat es Amalia Earhart nicht, um zur Heldin zu werden. Es ging ihr weder um „Unsterblichkeit“ noch um den Rekord an sich. Sie wollte tun, was sie will. Sie wollte sich weder einengen noch leiten lassen. Sie war damals in einer Art selbstbestimmt, die ins Heute übersetzt rücksichtslos erscheinen mag. Aber damals galten andere Parameter. Was damals der Luftraum war, ist heute das Weltall. Und auch heute gibt es von der breiten Öffentlichkeit bejubelte Pioniere, die sich um nichts und niemanden scheren, um ihre eigenen Ziele zu erreichen, koste es, was es wolle.
Und vielleicht suchte Amelia Earhart in luftiger Höhe auch bloss etwas, was sie auf dem Boden nicht bekam.
«Nicht ihnen fühlte ich mich verpflichtet, sondern nur dem unendlichen Raum der Möglichkeiten.»
Jo Lendle erzählt und umkreist. Er durchleuchtet nicht und ist weit weg von jeder Glorifizierung. Er erzählt die Geschichte Amelia Earharts, vom letzten Flug zurück bis in ihre Kindheit. Er erzählt von einer jungen Frau, die sich zu schälen versucht, so wie sich die Geschichte Schicht um Schicht „rückwärts“ erzählt. Da ich mit einem schnellen Blick ins Netz vom Schicksal Amalia Earharts lese, braucht das Buch keine auf die Tragödie hinzielende Dramatik. Was mich als Leser durch dieses Buch zieht, ist nicht das Geheimnis ihres Verschwindens, sondern das der möglichen Gründe und Ursachen, warum Amelia Earhart jenes Risiko zum Lebenselexier machte. Es ist die Geschichte einer Suchenden, die das in Worte zu setzen versuchte, was sie an inneren Bildern in sich selbst sah. Amelia Earhart schrieb nicht nur Tagebuch, sondern Gedichte, nebst den Himmelsrichtungen eine Dimension mehr, so wie ihr Drang nach oben, diese unbedingte Hinwendung in die fünfte Himmelsrichtung.
Ein Buch, das vielfach berührt!
Jo Lendle wurde 1968 geboren und studierte Literatur, Kulturwissenschaften und Philosophie. Bei der DVA sind seine Romane »Was wir Liebe nennen« (2013), »Alles Land« (2011), »Mein letzter Versuch, die Welt zu retten« (2009) und »Die Kosmonautin« (2008) erschienen, zudem 2021 bei Penguin »Eine Art Familie«.
Beitragsbild © Heike Bogenberge