Jakob Augstein muss es wissen. In seinem literarischen Debüt schreibt er von Franz Xaver Misslinger, einem Mann, dem politisch nichts zu misslingen scheint. Von einer steilen Politkarriere, von Kalkül und Macht, von Verrat und tiefen Verletzungen. Jakob Augstein weiss es, weil er sie kennt in den geschlossenen Kreisen der politischen Alphamenschen.
Ungewöhnlich genug, dass der 55jährige Verleger, Herausgeber, Journalist und medialer Tausendsassa einen Roman herausgibt. Es scheint lange gekocht zu haben. Und was ich lese, erstaunt und fasziniert mich gleichermassen. Wer „Strömung“ liest, wird Realpolitik nicht mehr mögen, wird sich in Vielem bestätigt wissen. Mag sein, dass Augstein Klischees bedient. Aber weil es ein Augstein-Roman ist, liest sich dieser Roman so ganz anders, als von jemandem, der sich durch Recherche an eine solche Geschichte wagt.
Misslinger wollte unbedingt das Beste aus sich machen. Das Optimum. «Optimieren» war ein Wort, das er gerne gebrauchte. Aber er wollte dabei mühelos bleiben.
Misslinger ist früh in die Politik eingestiegen, durchaus mit der Absicht, etwas in Bewegung zu versetzen. Aber wohl vor allem sich selbst. Er ist in den Zirkeln der Partei aufgestiegen, immer unter der Patenschaft seines grossen Mentors und Förderers, immer im sicheren Wissen darum, dass er an entscheidender Stelle getragen wird. Überhaupt ist er sich das Getragen-werden gewohnt. Nicht zuletzt von seiner Frau Selma und seiner Tochter Luise. Seine Karriere war ein Leben lang oberstes Gesetz, oberster Massstab, dem sich alles unterzuordnen hatte. Misslingers Leben richtete sich stets nach den Gesetzen innerparteilicher Strömungen. Bis nicht nur er felsenfest davon überzeugt ist, dass er am kommenden Parteitag ganz an die Spitze gehievt wird, alles von der einen, entscheidenden Rede abhängt, seinem sicheren Gespür für die richtigen Worte. Kurz vor jenem alles entscheidenden Parteitag rät man ihm, eine Auszeit zu nehmen, sich die Rede in aller Ruhe zurechtzulegen. Und weil Misslinger spürt, dass Distanz nur gut tun kann, auch vor dem drohenden ehelichen Scheiterhaufen, dem, was übrig bleibt, weil er nie da war, als es ihn in Ehe und Familie wirklich gebraucht hätte, tritt er eine Reise in die USA an. Eine Reise mit seiner sechzehnjährigen Tochter Luise, von der er genau weiss, dass er einiges gutzumachen hat. Zu seiner Überraschung nimmt Luise die Einladung an und die Reise beginnt.
Es gab doch ein paar andere Themen, Freiheit, Gerechtigkeit und so, aber wenn man alles Nebensächliche weggestrichen hätte, wäre als Wesenskern das Geldverdienen übrig geblieben.
Keine Reise in einen Urlaub. Misslinger gelingt es in keinem Moment, aus der Strömung auszutreten. Seine Tochter Luise ist längst nicht die brave, leicht zu begeisternde Tochter, die sich ein Vater als Begleitung wünscht. Luise stellt ihren Vater in Frage, immer und immer wieder. Sie, die in einer Generation aufwächst, der die Sorge um eine Zukunft schon mit 16 existenziell geworden ist. Sie, die schon mit 16 jegliches Vertrauen in die leeren Worthülsen aktueller Hinhaltepolitik nicht mehr hinhalten will. Zwar will Misslinger verstehen, aber eigentlich nur den Zugang zur Tür, die ihm zeigen soll, wie er mit Worten seine Tochter von seinen Ansichten überzeugen kann. Während er sich mit den Ängsten und dem Unverständnis seiner Tochter konfrontiert sieht, muss er feststellen, dass ihn die Strömung zuhause an den Schaltkreisen der Macht auszuspucken droht.
«Dreh dich mal um!»
„Strömung“ ist ein flirrendes Psychogramm eines Machtmenschen, der all sein Tun einem einzigen Ziel unterordnet; der Macht. Zwar immer unter dem Mäntelchen des Gemeinwohls, aber stets mit dem fokussierten Blick auf die nächste Stufe der Karriere, auf jenen Thron, von dem er überzeugt ist, er stünde ihm zu.
Augsteins Protagonist Franz Xaver Misslinger ist der Archetyp eines Politikers. Augsteins Roman ein Strudel, in dem sich Misslinger immer tiefer in Strömungen verliert, in einem unaufhaltsamen Ende. „Strömung“ ist der tiefe Blick in ein System, einen Strom, dessen Gesetze scheinbar der Mensch schreibt, dessen Unkontrollierbarkeit man aber nicht wahrhaben will. „Strömung“ ist faszinierend erzählt!
Jakob Augstein, geboren 1967, ist Verleger und Publizist. «Strömung» ist sein erster Roman.
Beitragsfoto © Mathias Bothor