Caterina bekommt ein Kind. Dass es mit der Geburt von Helena nicht einfach eine Zeit v. H. und n. H. gibt, davon erzählt der Roman «Am Abend fliesst die Mutter aus dem Krug». Virginia Helbling thematisiert, was gerne romantisiert wird; Mutter werden und sein. Mehr als ein Vorgang, mehr als eine Aufgabe, mehr als eine Veränderung. Diesen Roman müssten Männer lesen, ob sie Väter sind oder nicht, weil er von einer Reise erzählt, die sie niemals antreten können.
Eric, ihr Mann, ist Musiker, Geiger. Er lebt für seine Musik. Sie wohnen in einer Wohnung mit nur einer Tür, jener zum Bad. Irgendwo in einem Dorf oder Quartier, unweit vom Zentrum Roms. Während sich die Ich-Erzählerin im Spital nach einer schwierigen und langen Entbindung (Was für ein unzutreffendes Wort!) zu fassen versucht, ist Eric auf Tour. Während sich die mit einem Mal gewordenen Mütter auf der Entbindungsstation gegenseitig Normalität und Glück demonstrieren, bedeutet die Geburt des kleinen Mädchens für Caterina eine einzige Verunsicherung. Eine Verunsicherung, die ihr Mann bei seinen Besuchen, mit seinen Fragen, seinem Umsorgen in keinem Moment stillen kann, so wie die Mutter das kleine Mädchen zu Beginn nicht stillen kann.
«Die Fäden, die einst meinen Tag durchflochten, sind mir aus der Hand geglitten, und nun finde ich sie nicht mehr.»
Virginia Helbling beschreibt einen mehrfach toten Winkel. Jenen in der Literatur (Als Vielleser ist mir dieses Thema in der Art noch nie zur Lektüre geworden) und jenen in der Gesellschaft, die sich mit der Perspektive des «fehlenden Mutterglücks» schwer tut. Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft werden gerne glorifiziert, in pastellenen Farben geschildert. «Fehlendes Mutterglück», jenes Gefühl, nur ein ausfliessender Krug zu sein, wird mit Undankbarkeit markiert. Gesellschaft und Marketing tun alles, um Mutterschaft zu verklären, ohne je anzuerkennen, was diese Aufgabe wirklich bedeutet. Selbst unter Frauen wird «Muttersein» nicht als geltende Arbeit anerkannt.
«Ich zerbrösle im Zweistundentakt.»
Ein Kind kommt zur Welt. Ausgerechnet jenes Erlebnis, das mit vollkommenem Glück verbunden wird, verunsichert die gewordene Mutter total. Sie erkennt sich nicht mehr wieder, weder die von ihr empfundene Wirklichkeit noch jenen Traum, den sie v. H. (vor der Geburt Helenas) hatte. Das, was ihr als Mutterinstinkt versprochen schien, stellt sich nicht ein. Mit der Geburt ist sie so sehr von ihrem kleinen Mädchen entbunden und trotzdem vollkommen eingebunden, dass sie weder weiss, wo ihr der Kopf steht, noch alles andere. Die Protagonistin mäandert zwischen verunsicherter Seligkeit und dem Gefühl, einen Parasiten auf sich zu tragen.
«Helenas Präsenz enteignet mich.»
Wäre es ein schmerzerfülltes Tagebuch von einer Mutter, die einen Weg aus einem Gemisch von totaler Erschöpfung und maximaler Entfremdung von ihrer vorgeburtlichen Realität beklagt, würde ich ein solches Buch niemals lesen. Es ist die Sprache, es sind die Sätze! Virginia Helblings Protagonistin hangelt sich nicht nur mit Hilfe der Musik aus ihrem Loch, sondern die Sprache selbst orientiert sich an der Musik. Ich liebe Bücher, die mich mit Sprache beschenken. Und trotzdem wird die Geschichte, die Thematik nicht zur Nebensache. Virginia Helbling schrieb einen grossartigen Roman über ein grosses Thema, über eine Frau, die über sich hinauswächst, über eine Situation, aus der man sich nur selbst befreien kann.
Studer/Ganz-Preis 2015: «In der ersten Person erzählt «Am Abend fliesst die Mutter aus dem Krug» (Originaltitel: Dove nascono le madri, übersetzt: «Wo Mütter geboren werden») die Grauzonen einer jungen Mutter, die zwischen dem Wunsch nach Freiheit und den Aufgaben, die ihre Rolle mit sich bringt, hin- und hergerissen ist. Die Musik durchzieht das gesamte Werk, bestimmt seine Originalität und bietet der Protagonistin einen möglichen kreativen Fluchtweg.»
Viriginia Helbling wurde 1974 in Lugano geboren. Sie studierte Literatur und Philosophie an der Universität in Fribourg und arbeitete als Journalistin. Sie ist Mutter von sechs Kindern und lebt in Gorduno.
Jacqueline Aerne, geboren 1964, ist freischaffende Übersetzerin. Sie wuchs in Ascona auf und lebt heute in Basel. Sie hat in Basel und Bologna Italianistik und Kunstgeschichte studiert, war Assistentin und danach Lektorin für Italienische Literatur, mit Schwergewicht moderne und zeitgenössische Lyrik sowie literarische Übersetzung. Jacqueline Aerne ist Präsidentin des Verbandes Autorinnen und Autoren der Schweiz AdS.
Beitragsbild © Sandra Kottonau