„Ich bin in erster Linie ein Leser“

Über volle Satteltaschen, das eigene Schreiben und die Lust am Moderieren – eine Begegnung mit dem Literaturliebhaber und Kritiker Gallus Frei-Tomic, nach 1000 Artikeln auf seiner Literaturwebseite literaturblatt.ch.

Frank Keil

von Frank Keil; Hamburg
freier Journalist

Am frühen Morgen wie versprochen, die E-Mail:
„Lieber Frank, als ich dann merkte, wie schwer die Bücher sind, packte ich doch nur 5 ein: Ulrike Edschmid „Levys Testament“, Wolfgang Hermann „Herr Faustini bekommt Besuch“, Pascal Janoviak „Der Zoo in Rom“, Peter Terrin „Blanko“ und Patricia Melo „Gestapelte Frauen“.

Am Tag zuvor hatte mich Gallus Frei-Tomic mittags vom Bahnhof von Frauenfeld abgeholt. Er hatte auf den kleinen Rollkoffer gezeigt, den er gleich ratternd durch die Straßen ziehen würde: „Meine Abendgarderobe“, die Erklärung. Dann die Frage: „Magst du etwas essen?“ Gerne! Ich war schließlich einmal durch die halbe Schweiz gefahren, durch dieses für mich so fremde, freundliche und aufgeräumte Land.
Wir setzen uns ins ‚La Terrasse‘, ein großer Schirm hält die Sonne fern, wir bestellen das Menü Eins und das Menü Zwei. Alle viertel Stunde fährt grollend der Stadtbus vorbei. Auch zu hören: die Glockenschläge der Stadtkirche St. Nikolaus, ebenso aller 15 Minuten, aber zeitversetzt. Mein Aufnahmegerät steht zwischen uns; manchmal, wenn wir im Eifer des Gesprächs mit den Beinen oder den Ellenbogen gegen den Tisch stoßen, fällt es um und will wieder aufgerichtet werden und das geschieht dann.

Er ist so selbstverständlich gut gelaunt wie ich ihn von unseren zugegeben wenigen Treffen kenne. Strahlt und macht sich über den das Menü einleitenden Salat her. Und fängt gleich an zu erzählen: von der Fahrradtour, die er morgen in aller Frühe starten wird, den Rhein hinauf bis hoch nach Köln, wenn alles gut geht. Er sagt: „Ich stelle mir vor, ich fahre so mit dem Fahrrad, komme irgendwo um zwei Uhr an, ziehe meine Radlersachen aus, dann lege ich mich irgendwo auf eine Wiese oder – keine Ahnung – ich sitze in einem Garten-Restaurant, lese, schreibe.“
Entsprechend wird er in den Satteltaschen Bücher haben. Aber welche? Schwierig. Nur eines ist gewiss: „Ich nehme viele Autoren mit, die ich nicht kenne. Ich muss mich bei der Rezensiererei sehr fest bemühen, dass ich nicht immer wieder meinen Lieblingen verfalle, manchmal werde ich auch von den Lieblingen enttäuscht.“ 
Die Getränke kommen. Für ihn eine Selter, für mich eine Rivella (rot), weil ich das immer witzig finde, in der Schweiz eine Rivella zu bestellen, ich bleibe damit immer der einzige, bisher jedenfalls.

Also die Reise, die Fahrradtour: Er plündert dafür seine Extrakasse; die Kasse, in der sich das Geld sammelt, das er nebenher für Rezensionen in Zeitungen außerhalb seiner handschriftlich verfassten und auf echtem Papier gedruckten Literaturblattes und seiner Plattform www.literaturblatt.ch bekommt, also verdient. Und dass er eben bewahrt und sammelt, dieses Geld der Leidenschaft, für Unternehmungen, für die er nicht die häusliche Familienkasse belasten möchte. Extrageld, also, seine Vergnügungspauschale.

Aber wie hat es eigentlich alles angefangen mit dieser so Gallus’schen Bücherleidenschaft? Das will ich natürlich wissen. Aber noch ist es nicht so weit. Noch sind wir beim Warmplaudern, schauen nebenher nach links und nach rechts, wer da so neben uns sitzt. Der Himmel ist hoch und blau.

(Wir werden später, satt und zufrieden, noch in die Buchhandlung am Ort gehen und zueinander Sätze sagen wie „Habe ich noch nicht gelesen, soll aber richtig gut sein …“ oder „Diesmal war ich enttäuscht, dabei ist sie so eine gute Autorin …“ oder „Einer meiner Lieblingsautoren, ist aber Geschmackssache …“, während uns die Buchhändlerin ein wenig säuerlich beobachtet, weil wir ja doch nichts kaufen werden, wie wir da um die vollgepackten Büchertische tänzeln, wir bekommen ja so gut wie alles an Büchern geschickt, aber dieser Buchhandlungsbesuch kommt noch, am Ende).

Also: Wie hat es eigentlich angefangen? 
Oder soll ich nicht erst mal fragen, ob er eigentlich selbst schreibt? Oder ist das zu direkt, zu sehr mit der Tür ins Haus gefallen, wie man bei uns sagt? 
„Also weißt du …“, sagt er nach einer langen Pause, als ich dann frage: ‚Schreibst du eigentlich auch literarisch?‘ „Probiert habe ich es schon oft, schon ganz früh.“
Er legt sein Besteck kurz zur Seite, faltet die Hände, als müsse er sich sammeln: „Ich habe schon mal ein Manuskript fertig gemacht, das hieß ‚Der Bruch‘. Ich habe es sogar verschickt, denn ich fand es gut“, sagt er schließlich. 
Er bekam damals bald von den Verlagen leicht erkennbar vorgefertigte Absagen zugeschickt. Was auch einem Freund so erging, der gleichfalls ein Manuskript bei diversen Verlagen eingereicht hatte: „Wir haben dann diese Absagen auf einer großen Platte aus Messing abgelegt, haben sie ritisch verbrannt und sind um dieses Feuer getanzt.“ Er lacht und nimmt Messer und Gabel wieder in die Hand: „Damit war es vergessen und weggelegt, aber ich schreibe eigentlich immer Tagebuch.“
Er beugt sich zur Seite und holt aus dem Koffer ein dickeres Heft, Format etwa Din A 5, schlägt es auf, zeigt die Seiten, engstens Zeile für Zeile eng beschrieben. Robert-Walser, denke ich, „So Robert-Walser-mäßig“, sagt er. „Wobei: Es ist schon lesbar.“ 
Und nach einer Pause, ich merke, die Frage nach seinem Schreiben, dem eigenen, lässt ihn nicht los, er nimmt einen neuen Schwung: „Vor zwei Jahren habe ich mich um einen Schreibaufenthalt bemüht und war tatsächlich einen Monat im Meran, und ich habe mich bemüht, dass ich mir nicht allzu viele Hoffnungen mache, dass in diesen vier Wochen irgendwas passiert.“
Also: kein Plan, keine Ideen-Skizze, nichts habe er sich vorgenommen, rein gar nichts. Stattdessen dabei: ein Koffer voller Bücher. „Ich habe mir gesagt: ‚Gallus, alles gut‘.“ Denn wenn nichts passiere, lese er eben den Koffer leer, und dann schrieb er vier Wochen lang: „160 Seiten, wie in Ektase, das habe ich genossen, in diesem ekstatischen, völlig ungestörten Zustand zu sein – aber am Schluss gab es einen Rohling.“ Er wiegt seinen Kopf leicht hin und her: „Ich habe es dann gewissen Leuten zum Lesen gegeben, die haben gesagt, es hätte gutes darin, aber es sei ungeschliffen.“ 
Er hebt ein wenig abwehrend die Hände: „Ich sage nicht ‚Diamant‘ – sondern: ‚ungeschliffen‘.“ 
Aber er hätte dann nicht den Ehrgeiz gehabt, vielleicht nicht die Kraft, noch mal in die Vollen zu gehen: „Gallus, habe ich mir gesagt, da musst du dich entscheiden, willst du auf die Fährte setzen, ich schreibe selbst was und vielleicht wird was draus und vielleicht auch nicht – oder machst du weiter, wo ich jetzt schon weiß, dass ich es kann und dass es zumindest von ein paar Leuten gelesen wird.“
Er hat sich entschieden. Aber ist die Entscheidung auch gültig? „Es tut nicht weh“, sagt er nun abschließend: „Ich denke auch nicht von mir: Eigentlich geht der Welt was ab, geht ihr was verloren, wenn ich nicht dran bleibe.“ Will zum nächsten Thema springen (gleich!), sagt dann: „Obwohl, manchmal lese ich schon ein Buch, wo ich ein wenig überheblich denke …“

„Es sind die guten Bücher, die mich wirklich verblüffen und die meine Welten bei weitem überschreiten“, setzt er nach. Wie bei Rolf Lappert. „Dieser Rolf Lappert“, sagt er und schnalzt fast mit der Zunge: „Dieses episch breite Erzählen – ich habe keine Ahnung, wie ich das angehen würde. Also was der Rolf Lappert jedes Mal abliefere: „Ein Monolith! Und nicht eine Ansammlung von Steinen.“

Heute Abend wird er ihn moderieren, im Literaturhaus Thurgau, sozusagen nebenan, das Haus, dass er seit einiger Zeit leitet, dazu später mehr: „Ich mache das wahnsinnig gerne, ich moderiere extrem gerne.“ Der Rolf Lappert war schon bei ihm zu Hause, war zu Gast, las, man sprach, man aß gemeinsam, am Familientisch, „Literatur am Tisch“, heißt die Veranstaltung, falls ‚Veranstaltung‘ noch der richtige Begriff ist. „Wenn ich dann noch die Autoren persönlich kenne“, ist er wieder bei heute Abend, bei den Stunden, die noch kommen werden, „macht das nur Freude, und ich genieße dieses Engagement. Wenn ich Programm mache, das ist wie ein Geschenk. Ich habe quasi eine Freikarte, mir die Leute ins Haus zu holen, die ich gerne habe. Wer kann das schon? Ich! Finde ich super.“

Das Beste sei gewesen, dass ihn die Stiftung, die das Literaturhaus Thurgau führt und also finanziert, angefragt habe, ob er sich das vorstellen kann: eben jenes Haus die nächsten drei Jahre zu leiten: „Das setzt ja voraus, dass man das Gefühl hat, ich sei der richtige Mann für diese Aufgabe. Weil: Hätte ich mich bewerben müssen, hätte ich niemals den Mut gehabt.“ Er habe ja nicht Literaturwissenschaft studiert. Er sagt und sagt es mit schlichter Präsenz: „Ich bin in erster Linie ein Leser.“

Und nun steht der abschließende Kaffee vor uns, in Espresso-Form und wuchtig-schaumig als Latte macciato, der danach ruft, dass man mit dem langstieligen Löffel rührt und rührt, dass sich Kaffeebraun und Milchweiß mischt: „Mein Glück ist, dass ich vor fünf Jahren mit dieser Bloggerei begonnen habe. Weißt du, da fängst du an und dann siehst du Besucherzahlen, hast pro Tag zwei Besucher. Das war für mich schon verblüffend, dass diese fünf Jahre, die ich das jetzt mache, das Bloggen, das sie gereicht haben, dass ich zumindest in der kleinen Literaturszene Schweiz meinen Platz bekommen habe. Das war nicht mein Ziel! Es war eine schöne Begleiterscheinung.“

Sein eigentliches Rückgrat sind zuvor seine ‚Literaturblätter‘, handschriftlich niedergeschrieben empfiehlt er je vier herausragende Bücher fünfmal im Jahr; seit zehn Jahren gibt er sie verschickend heraus, nur an zahlende Abonnenten, von denen er gut 200 hat, die „Freunde der Literaturblätter“. 
Und dann, vor fünfeinhalb Jahren, hat er, der hauptberufliche Lehrer („‘Primarlehrer‘ sagt man bei uns in der Schweiz, also ‚Grundschullehrer‘ bei euch“, sagt er), ein Burnout: „Vor dem Burnout hat mir mein Schwiegersohn auf meinen Geburtstag die Domäne geschenkt, weil er der Meinung war: ‚Gallus, du musst Werbung machen für dein Literaturblatt‘.“ Und dann hat er diese Domäne. Mehr nicht. 
Er holt tief Luft: „Ja, dann war dieses Burnout, ich musste mich irgendwie beschäftigten, habe angefangen mit diesem Literaturblatt.ch, aus einer Not heraus, ich musste eine Aufgabe haben – in einer Zeit, wo ich dachte: Ich kann nie wieder unterrichten, ich hatte Angst auf der Straße meinen Schülern zu begegnen, ich hatte Existenzängste, ich war ja schon über 50 und fragte mich: Wozu kann man mich noch brauchen?“ Er nickt: „Und da war dieses Literaturblatt.ch genau das Richtige.“

Das war die erste Initialzündung. Und dann die zweite, da ist der März vorbei, das Frühjahr steht vor der Tür, er kann sechs Einträge, also Beiträge auf seinem Literaturblatt-Blog vorweisen: „Und dann habe ich stinkfrech das Literaturfestival im Leukerbad angefragt, ob ich für meinen Blog über das Festival berichten darf.“ Ja, natürlich dürfe er. 
Er fährt hin, er meldet sich bei der Festivalleitung an, stellt sich vor; sagt, wer er ist: „Ich hatte schon erwartet, dass ich eine Dauerkarte für die Lesungen bekomme – aber die haben mir das Hotel bezahlt!“
Und dann, nach einem kurzen Moment, platzt es aus ihm heraus, eine kleine Freudenexplosion: „Das war so schön!“ Sagt: „Ich hatte noch keine Klicks, hatte gar nichts, niemand hat mich gekannt und die bezahlen mir das Hotel.“ Und er weiß damals, dass er gelesen wird, dass man ihn wahrnimmt, und er sagt abschließend: „Es war eine Erleuchtung.

“
Ich schaue ihn an, sehe, wie er sich noch heute freut, wie er glücklich ist, nebenan wird neu eingedeckt, der Stadtbus ist zu hören, wie der Fahrer die Gänge schaltet, die nächste Uhrzeit wird glockenschlagend verkündet, wir nicken uns zu, stehen auf, rücken dabei die Stühle knarrend zurück, er greift nach seinem Rollkoffer: „Wollen wir noch eine kleine Runde gehen? Da oben gibt es noch eine Buchhandlung …“