Manchmal drängen sich Bücher auf. „Dort dort“ tat es, weil es tut, was Literatur wie kaum eine andere Kunstgattung tun kann. Sie mischt sich ein. Sie prügelt mich als Leser aus meiner Komfortzone. Sie schimpft mich einen Ignoranten, weil ich mich mit Erklärungen verschanze, Erklärungen darüber, warum meine Welt aus derart vielen Irrtümern besteht.
1492 entdeckte Columbus eine neue Welt, nannte die Völker dort Indianer. Man pries ihn Jahrhunderte lang als Entdecker, goss ihn in Bronze, feierte ihn als Helden. Damals sollen nach Schätzungen 60 Millionen Menschen in Nord- und Südamerika gelebt haben. 100 Jahre später hatten bloss 10% von ihnen überlebt.
Aber das Sterben, Morden und Vertreiben ging Jahrhunderte lang weiter und hat sich tief ins Bewusstsein der indigenen Völker gefressen. Allein die Indianer in Kalifornien schrumpften zahlenmässig bis 1900 in Zeiten des Goldrauschs von 300 000 auf 16 000. Dass man dabei nicht von einem Genozid spricht, ist ein Hohn. Dass die USA sich ihrer Verantwortung allen nicht weissen Bevölkerungsgruppen gegenüber nicht bewusst ist, zeigen die jüngsten Ereignisse mit aller Deutlichkeit. Noch immer glaubt der Weisse an seine Vormachtstellung, an ein von Gott gegebenes Privileg. Dass dieses Selbstverständnis auch in Europa im Unterbewusstsein und manchmal auch ganz offen im Bewusstsein vieler steckt, beweisen Interviews mit in Deutschland, Österreich und der Schweiz geborenen nicht Weissen.
„Man kann das Leben nicht schönreden, wenn es nicht schön ist.“
Noch immer ist das Bild eines Indianers das in romantisch verklärten Bildern gezeichnete Fantasiemotiv aus Filmen und Büchern. Auch wenn sich dieses Bild langsam zu relativieren beginnt, bleibt eine kritische Auseinandersetzung mit sämtlichen Regungen kolonialen Denkens aus. Eroberung und Expansion, Übernahme und Ausweitung sind Begriffe in Wirtschaft und Geschichte. Die 500 Jahre Leidensgeschichte der nordamerikanischen Ureinwohner sind nicht vorbei, nicht ansatzweise aufgearbeitet. Wenn wir mit dem Wohnmobil in den Staaten Ferien und Fotos von bunt gekleideten Indianern machen, eine Kette kaufen und in die untergehende Sonne blinzeln, ist uns nicht bewusst, wie viel Zerstörung weisses Selbstverständnis angerichtet hat.
„Zuhause war ein verriegelter Kombi auf einem leeren Parkplatz. Zuhause war eine lange Busfahrt. Zuhause war, wo auch immer sie für eine Nacht sicher waren.“
Darum braucht es die Literatur. Darum braucht es Romane wie diesen von Tommy Orange. Weil sie in aller Klarheit und Direktheit schildern, was ist, nichts beschönigen aber auch in keine Depression verfallen. Tommy Orange erzählt aus dem Leben der Indianer heute, tut es von innen heraus. Und es ist nicht einfach die Geschichte eines Einzelnen, sondern eines Kollektivs, eines ganzen Volkes, das man seit Jahrhunderten schamlos belügt, betrügt und hinhält. Dass Teil des amerikanischen Traums sein soll, aber statt dessen den amerikanischen Alptraum erlebt.
Jaquine Red Feather, Drogenberaterin und selbst erst seit ein paar Tagen frei von Alkohol, gab als junge Frau nach einer Vergewaltigung ihr Kind zur anonymen Adoption frei. Wie alle in diesem Roman ist sie unterwegs in ein Stadion, unterwegs zu einem Powwow, einem grossen indianischen Treffen, an dem getanzt, gesungen und getrommelt wird. Jaquine Red Father ist aber wie alle auch unterwegs zu ihrer Familie, ihrer kleinen Familie, ihrer grossen, indianischen Familie. Dene Oxendene, ein junger Cheyenne und Arapaho Triebs, will mit der Kamera seines Onkels Geschichten der Native Americans, der Indianer festhalten. Und Erwin Black, ein junger Mann mit einer weissen Mutter und einem indianischen Vater, ist auf der Suche nach seiner Herkunft, seinem inexistenten Vater.
„Jugendliche springen aus dem Fenstern brennender Gebäude und stürzen in den Tod. Und wir glauben, das Problem wäre, dass sie springen. Getan haben wir Folgendes: Wir haben nach Möglichkeiten gesucht, um sie am Springen zu hindern. Sie davon zu überzeugen, dass es besser ist, bei lebendigem Leib zu verbrennen, als Schluss zu machen, wenn es so heiss wird, dass sie es nicht mehr aushalten.“
In „Dort dort“ sind sie alle unterwegs, alle auf der Suche. Unterwegs zum Powwow, unterwegs zu einem Sehnsuchtsort, unterwegs, raus aus der Hoffnungslosigkeit, getrieben von Fetzen einer Perspektive. Und alles in diesem Buch, alles was aus einer grossen indianischen Katastrophe gründet, sich aus dem grossen indianischen Trauma zu schälen versucht, mündet wieder in einer Katastrophe. Ausgerechnet an jenem Ort, an dem die indianische Seele Atem schöpft, soll ein Verbrechen stattfinden, ein Raub.
„Du bist Indianer, weil du Indianer bist, weil du Indianer bist.“
Tommy Orange erzählt mit den Stimmen der Menschen, die er beschreibt, mit authentischen Dialogen, abgrundtiefen Einsichten in die gebeutelte indianische Seele. Und doch ist „Dort dort“ von grandioser poetischer Kraft, wenn Tommy Orange von Emotionen, Landschafts- und Seelenbildern erzählt – nicht zuletzt vom Sterben. Der Roman tut weh, weil Tommy Orange das letzte Fitzelchen Romantik verbannt, weil er mir mit Gewalt in den Nacken greift und mich zwingt hinzuschauen.
Tommy Orange, geboren 1982 in Oakland, ist Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Angels Camp, Kalifornien.
Hannes Meyer wurde 1982 in Preetz bei Kiel geboren. Er studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen und arbeitet seit 2007 als freier Übersetzer. Er übersetzte u. a. Bücher von James Franco, Philip Kerr und Dana Spiotta. Für seine Übersetzung des Romans «Der Geschichte einer kurzen Ehe» von Anuk Arudpragasam wurde er für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt nominiert.
Beitragsbild © Christopher Thompson/NYT/Redux/laif