György Dragomán «Löwenchor», Novellen, Suhrkamp

György Dragománs deutsch erschienene Romane «Der weisse König» und «Der Scheiterhaufen» sind Eckpfeiler in meiner Bibliothek. Zum einen, weil er mit ungeheurer Kraft zu erzählen vermag, zum andern, weil sich Bilder aus seinen Romanen tief in meine Erinnerungen einbrannten. Seine Bücher beschreiben die Sehnsucht nach Heimat. Und wer sie im Umfeld, im Zuhause, am Geburtsort nicht findet, findet sie vielleicht in der Kunst.

György Dragomán ist mit 15 weggefahren aus seinem rumänischen Heimatort Târgu Mureş, dem Ort, an dem er aufwuchs und zu schreiben begann. Weg vom Ceaușescu-Rumänien ins benachbarte Ungarn. Seine Novellen erzählen vom Wegfahren, vom Fremdsein, vom Verlassensein. Von Menschen, die einzig in der Musik jenes Stück Heimat und Zuhause finden, das es zum Leben, zum Überleben braucht. Kurze Geschichten wie jene von einem jungen Mann, der gezwungen ist, für seine Ehe, seine Liebe, die Familie zurück-, den Kontakt sterben zu lassen. Über eine Mutter, die eine junge Liebe mit einem Fluch belegt, der sich dann auch wirklich zwischen den beiden Jungvermählten einzunisten scheint und sich wie ein Geschwür auswächst, zu wuchern beginnt und einen Fötus nach dem andern sterben lässt. Wie die Musik, der Gesang, das einzige ist, was gegen solches Gift antreten kann.

Es sind kurze Geschichten, vielstimmig, überraschend, sanfte und lärmende, kräftige und ganz zarte. György Dragomán spielt polyphon, wechselt von einem Instrument zum andern. Manchmal erzählend, manchmal anklagend, manchmal monologisierend, manchmal dramatisch. So wie es in der Musik Menschen gibt, die aus einer Vielzahl von Instrumenten die unterschiedlichsten Klangformen, tonalen Erzählweisen extrahieren können, so schafft es György Dragomán mich von seinem grossartigen Können zu überzeugen. Er spielt mit Sprache so wie Musiker mit ihrem Instrument. Seine Sprache ist mehr als Instrument. Er vermag in mir als Leser so unterschiedliche und divergente Resonanzen zu erzeugen, dass ich mir während des Lesens immer wieder in Erinnerung rufen muss, dass es ein und derselbe Autor ist.

Die Übersetzerin Timea Tankó, 1978 geboren, arbeitet seit 2003 als literarische Übersetzerin aus dem Französischen und dem Ungarischen (u.a. Andor Endre Gelléri, István Kemény und Antal Szerb). Timea Tankós Übersetzung von György Dragománs «Löwenchor» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Kurzrezension auf dem 28. Literaturblatt von György Dragománs Roman «Der Scheiterhaufen»: Rumänien im Umbruch, ein Land am Zerbrechen. Emma ist dreizehn, lebt noch nicht lange in einem Internat, weil ihre Eltern angeblich bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein sollen. Völlig überraschend taucht im Internat eine alte Frau auf, behauptet, ihre Grossmutter zu sein und nimmt Emma weg aus dem Internat, obwohl Emma von ihren Eltern nie etwas von einer Grossmutter gehört hatte. Herausgerissen in eine unbekannte Welt am Rand einer Kleinstadt, hinein in ein Haus voller Geheimnisse, erobert Emma ihre neue Umgebung. In der Schule, zuerst verachtet und geschimpft als Enkelin einer Irren, aus einer Familie von Verrätern, lernt Emma sich zu behaupten. Sie lernt, dass hinter allem verborgen Wahrheiten stecken. Auch bei ihrer Grossmutter, zu der sie sich immer mehr hingezogen fühlt, die ihr ein Nest gibt, eine Burg vor den Anfeindungen des Mobs. Wie in seinem letzten Roman «Der weisse König» beweist der Autor, wie hoch seine Meisterschaft der eindringlichen Bilder, an den Grenzen zum Surrealen, ist. «Der Scheiterhaufen» ist ein Buch, das man riechen kann, das sprachlich auf der Zunge zergeht.

© Ekko von Schwichow

György Dragomán, 1973 in Marosvásárhely (Târgu-Mureş) / Siebenbürgen geboren, übersiedelte 1988 mit seiner Familie nach Ungarn. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman, A pusztítas könyve (Das Buch der Zerstörung). Er hat über Beckett promoviert, übersetzt aus dem Englischen und arbeitet als Webdesigner. «Der weisse König» (2005; dt. 2008) ist in dreissig Ländern erschienen. Dragomán lebt in Budapest.