Die Geschichte des weiblichen Wassergeist Undine ist alt, der Name Undine indogermanisch, von „Welle“ abgeleitet. Die Urgeschichte aus dem 13. Jahrhundert wurde vielfach nacherzählt, u. a. 1811 von Friedrich de la Motte Fouqué als Märchennovelle und in verschiedenen Varianten auch in anderen Figuren wiederzufinden (Loreley). Günter de Bruyn erzählt die Geschichte neu und doch mit der Patina einer unsterblichen Sage.
Undine, eine junge Frau aus der Wasserunterwelt, will das Menschsein ergründen, verliebt sich und muss ihren Geliebten warnen. Denn einmal verheiratet, muss der Geliebte seine Untreue mit seinem Leben bezahlen und Undine wird verschwinden. Beide Geschichten, jene von Friedrich de la Motte Fouqué und die von Günter de Bruyn sind in dem überaus schmucken Band zusammen mit den Illustrationen von Jörg Hülsmann abgedruckt. So etwas wie der dritte Band, nach „Effi Briest“ von Theodor Fontane und „Sternstunden der Menschlichkeit“ von Stefan Zweig, die alle von Jörg Hülsmann illustriert in jede Bibliothek von BuchliebhaberInnen gehören.
Ein einsames Fischerpaar am Ufer eines grossen Sees geniesst das späte Familienglück bis die Tochter an einem stürmischen Tag verschwindet. Todunglücklich ergeben sich die beiden ihrem Schicksal bis urplötzlich ein Mädchen an ihre Haustüre klopft, tropfnass, unbeeindruckt vom Unwetter in ihrem Rücken. Das Mädchen ist blond, gleich alt wie ihre verschwundene dunkelhaarige Bertalda. Die beiden nehmen das Mädchen auf und sie bleibt bei ihnen, wenn auch immer fremd und dem Wasser zugeneigt. Jahre später verschlägt es einen jungen Ritter zu den Fischern an das Ufer des Sees. Und weil dieser durch ein Unwetter gezwungen ist zu bleiben, verlieben sich die beiden jungen Leute. Der Ritter hält um die Hand Undines an, die ihm gerne in seine heimatliche Burg folgt mit der Warnung, dass er etwaige Untreue teuer zu bezahlen hätte. Zurück am Hof des Ritters wird klar, dass das Mädchen, dem er vor seiner Reise seine Hand versprochen hatte, die verschollene Tochter des Fischerpaars ist, eine junge Frau, die ihre Vergangenheit vergass. Es kommt, wie es kommen muss.
Warum eine alte Geschichte nacherzählen? Weil Sagen mehr als bloss Geschichten sind. Weil sie zum Erbmaterial einer ganzen Kultur gehören. Und wenn solche Geschichten bis zu Ariellefilmen aus dem Hause Disney verniedlicht werden, ist bitternötig, dass man dem alten Erbe kein neues Gesicht, aber ein neues Gewand gibt, keine Adaption in die Moderne, aber in einer Sprache erzählt, die nichts vom sagen-haften Zauber der Urfassungen eingebüsst hat. Und wer kann ein solches Kunstwerk besser als ein alter Meister seines Fachs.
Dass der Verlag S. Fischer bei dieser Veröffentlichung den Illustrator Jörg Hülsmann mit ins Boot nahm, macht aus der Sage einen Buchschatz erster Güte. Kein Buch, das man nach der Lektüre so einfach zwischen andere Bücher ins Regal schieben will. Ein Buch, das Raum nimmt und Raum braucht, dass sich zeigen lassen will, das zur Verführung aufruft, so wie die schöne Wasserfrau aus den Tiefen des Sees. „Die neue Undine“ ist eine literarische Sirene!
Der letzte vom Autor zu Lebzeiten abgeschlossene Text!
Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebte seit 1969 im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u.a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays «Als Poesie gut» und «Die Zeit der schweren Not», die autobiographischen Bände «Zwischenbilanz» und «Vierzig Jahre» sowie die Romane «Buridans Esel» und «Neue Herrlichkeit». Günter de Bruyn starb am 4. Oktober 2020 in Bad Saarow.
Jörg Hülsmann, geboren 1974, studierte Illustration in Düsseldorf und Hamburg. Seit 2003 zeichnet er als freier Illustrator für Buchverlage wie S. Fischer, Suhrkamp Insel, DuMont oder die Büchergilde Gutenberg und für Magazine wie das mare-Magazin, die Frankfurter Rundschau und Das Magazin des Tages-Anzeigers, Zürich.
Beitragsbild © Doris Poklekowski