Gerbrand Bakker «Der Sohn des Friseurs», Suhrkamp

Mit seinem Roman „Oben ist es still“ (dt, 2008) hat sich der niederländische Schriftsteller nicht nur bei mir tief ins literarische Bewusstsein gegraben. Da schreibt einer mit einem ganz eigenen Blick auf Menschen und Szenarien! Mit seinem neusten Roman „Der Sohn des Friseurs“ setzt Gerbrand Bakker noch einen drauf!

Da ist die Geschichte eines stillen Mannes, der in seiner Freizeit Stunden Länge um Länge im Hallenbad schwimmt, der den Friseursalon seines Grossvaters weiterführt und gerade so viel arbeitet, dass es reicht. Da ist die Geschichte eines Sohnes, der die Einmischungen seiner Mutter stoisch erträgt und auf die Fragen nach seinem Vater keine Antworten bekommt. Die Geschichte eines Kunden, eines Schriftstellers, der erst zaghaft nach Einblicken in die Arbeit eines Friseurs fragt und ein immer wichtigerer Teil im Leben des stillen Mannes wird. Und die Geschichte eines Vaters, der sich aus seinem Leben weggeschlichen, dem eine Katastrophe zu einem Neuanfang verholfen hat.

Gerbrand Bakker erzählt die unspektakulären Leben der kleinen Leute. Und weil er sich selbst auch zu ihnen zählt und ganz offensichtlich nichts am Hut hat mit kulturellem Klassenbewusstsein, ist auch der Schriftsteller, der sich in diese Geschichte mischt und unzweifelhaft seine Züge trägt, ein „kleiner Mann“. Einer, der seine Arbeit macht, gerade so viel, dass es reicht, so wie Simon in seinem Salon in der Stadt. Jener Schriftsteller, der sich zu Recherchezwecken so sehr für die Arbeit eines Friseurs interessiert, wurde mit einem Roman „Oben ist es still“ bekannt. Er ist einer neuen Geschichte auf der Spur, jener eines stillen Mannes, der in seiner Freizeit Stunden Länge um Länge im Hallenbad schwimmt.

Gerbrand Bakker «Der Sohn des Friseurs», Suhrkamp, 2024, aus dem Niederländischen von Andreas Ecke, 285 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-518-43158-0

In Simons Salon ist die Zeit stehengeblieben, alles noch immer so wie damals, als sein Vater aus dem Leben der Familie gerissen wurde, Opfer jener Flugzeugkatastrophe vom 27. März 1977, als eine Boing der KLM und einer der Pan American auf der Ferieninsel Teneriffa bei Nebel auf dem Flughafen Los Rodeos zusammenkrachten. Fast 600 Tote. Simons Mutter verweigert Antworten auf Fragen nach seinem Vater. Simons Mutter war damals schwanger, schwanger mit Simon. Und obwohl Simons Vater keine Erinnerungen generiert, bestimmt er immer wieder Simons Gedanken. Nicht zuletzt, weil sein Grossvater, der damals seinen Salon zu einem regelrechten Quartiertreffpunkt gemacht hatte und so ganz anders tickt wie er, immer wieder rätselhafte Andeutungen machte, beginnt Simon zaghaft eine Recherche.

Gerbrand Bakker erzählt aber auch die Geschichte des Vaters, der damals in einem jener Flugzeuge sass, aber eben nur vor dem Start auf der Ferieninsel, vor der tödlichen Katastrophe. Weggeschlichen aus einem Leben, das ihm zu vorgezeichnet erschien. Es hätten ein paar Tage mit einem Praktikanten aus dem Salon werden sollen. Es wurde ein ganzes Leben auf der Insel, in einem neuen Leben.
Und Gerbrand Bakker erzählt die Geschichte eines Schriftstellers, der auf der Suche nach einem neuen Stoff ist, der der Spur einer Geschichte folgt, der mehr und mehr vom Leben des vierzigjährigen Simons erfährt und sich nicht zuletzt von ihm hingezogen fühlt, sie beide ruhelose Seelen auf der Suche nach einer Spur. In Simons Wohnung über dem Salon, in dessen Schlafzimmer immer noch die eigerahmten Poster seiner grossen Schwimmidole hängen, stehen auch die Bücher des Schriftstellers. Obwohl sie erst nur höfliche Geschenke waren, beginnt Simon zu lesen. So nähern sich die beiden Männer an, verknoten sich mit ihren Geschichten.

„Der Sohn des Friseurs“ ist eine Geschichte, die sich selbst erzählt. Gerbrand Bakker erzählt von sich, von seinem Schreiben, nicht zuletzt vom Unerklärlichen des Literaturbetriebs, witzig dann, wenn er von einer Begegnung mit dem grossen Kehlmann erzählt, bescheiden dann, wenn er sich an der Übersteigerung seines Berufsstands stört. „Der Sohn des Friseurs“ ist Vater- Sohn- und Enkelgeschichte. Die Geschichte einer Familie, die eine Katastrophe zeichnete. Wie viel ist Bestimmung? Können wir uns so einfach verabschieden? Wer und was bestimmt, was wir tun? Gerbrand Bakker stellt seine Fragen ganz dezent, erzählt scheinbar locker und bleibt seinen Figuren freundschaftlich nah. Ein echter Bakker!

Gerbrand Bakker, 1962 geboren, lebt und arbeitet in Amsterdam und in der Eifel. Neben dem Schreiben ist er auch als Gärtner und hin und wieder als Eisschnelllauftrainer tätig. Seine Romane, die in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden, sind vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Independent Foreign Fiction Prize und dem International IMPAC Dublin Literary Award.

Andreas Ecke hat neben Gerbrand Bakker, AutorInnen wie Saskia Goldschmidt und Ernest van der Kwast ins Deutsche übertragen. Er wurde mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis und dem Europäischen Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Marc Brester