Geschichten wie dunkle Gemälde! Dass Fleur Jaeggy bei vielen Leserinnen und Lesern nicht auf dem Schirm ist, mag verschiedene Gründe haben. Zum einen schreibt die Schriftstellerin italienisch, zum andern lebt sie scheu und zurückgezogen in Norditalien. Aber wahrscheinlich liegt der Grund auch in der männerdominierten Vergangenheit der Kultur- und Literaturszene.
Dass Suhrkamp in den kommenden Jahren das Werk von Fleur Jaeggy nach und nach wieder in seiner Breite einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen will, ist löblich und mit einem Seitenblick auf Annie Ernaux mehr als verständlich. So wie die grosse Französin entwickelte Fleur Jaeggy in den fünf Jahrzehnten ihres Schreibens einen ganz eigenwilligen Stil, weit weg vom blossen Geschichtenerzählen. Jaeggys Texte, ihre Kurzgeschichten im 2014 in Italienisch erschienenen Band „Ich bin der Bruder von XX“, schildern in einer dunkel gefärbten Sprache vom Unerklärlichen des Lebens. Fleur Jaeggy erzeugt eine ganz eigene Tiefe in Geschichten, die mich als Leser stets mit einem Rest Ratlosigkeit zurücklassen. Einem Rest, der durch seine Verschlüsselung noch lange nachwirkt. Sie erzeugt Bilder, die über die Grenzen zum Surrealen hinausgehen, manchmal von einer ganz alltäglich, fast banalen Eingangsszene bis in den Alp.
Mit ihrer im appenzellischen Teufen spielenden Internatsnovelle «Die seligen Jahre der Züchtigung», erlangte Fleur Jaeggy 1989 Beachtung weit über Europa hinaus, Beachtung, die ihr in ihrem Ursprungsland stets verwehrt blieb. Erst in diesem Jahr ehrte man die 84jährige in der Schweiz mit dem Gottfried-Keller-Preis, einem Preis, die die Schriftstellerin endlich in die Reihe der Grossen in der CH-Literatur stellt.
„Ich bin der Bruder von XX“, 20 Prosaminiaturen, liest sich wie eine Bilder- und Fotoausstellung. Ausschnitte eines Lebens, die Stimmungen aus ihrem Leben schildern, aber nicht, um sie zugänglich zu machen. Fleur Jaeggy verschleiert. Manchmal scheint sie auch mit Absicht in die Tiefenschärfe einzugreifen, als wolle sie mich zwingen, durch ihre Sinneseindrücke Fragen zu verändern, den Blick umzuleiten. Selbst in Familienszenen dominiert das Bedrohliche, die Enge, das Fremde. Als wäre sie in der Welt, in die sie hineingeboren wurde, nie heimisch geworden, auf eine ganz seltsame Weise einsam geblieben.
In einer der kurzen Texte beschreibt Fleur Jaeggy gar eine Begegnung mit ihrer Freundin Ingeborg Bachmann. Darüber, was sein wird, wenn sie dereinst alt sein werden. „Jeden Tag ging ich ins Sant‘Eugenio, Abteilung Schwere Brandverletzungen. Zweimal betrat ich ein Zimmer, das aseptisch sein musste.“ Etwas, was ihre Kurzprosa ganz und gar nicht ist.
Ein Juwel und ein Stück grosse CH-Literatur!
Fleur Jaeggy ist eine schweizerische und italienischsprachige Autorin, Ex-Model, Intellektuelle, Mystikerin, inzwischen etwas über 80 Jahre alt, ehemals enge Vertraute Ingeborg Bachmanns, Witwe des Adelphi-Verlegers Roberto Calasso, heute lebt sie weitgehend zurückgezogen in Mailand. Ihr weltweit gefeiertes Werk umfasst Romane, Erzählungen und Geschichten – beginnend mit «Ich bin der Bruder von XX», wird es fortan vollständig im Suhrkamp Verlag erscheinen.
Fleur Jaeggy im Autorenlexikon von Charles Linsmayer
Barbara Schaden studierte Romanistik und Turkologie in Wien und München, arbeitete anschliessend als Verlagslektorin und ist seit 1992 freiberufliche Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Italienischen. Sie übersetzt neben Kazuo Ishiguro unter anderem Patricia Duncker und Nadine Gordimer. Barbara Schaden lebt in München.
Ein Mädcheninternat im Appenzell der sechziger Jahre. Gehorsam und Disziplin prägen die Ordnung des Hauses. Die heitere Landschaft vor den Fenstern treibt die vierzehnjährige Ich-Erzählerin zu stundenlangen einsamen Spaziergängen. Eines Tages erscheint eine Neue während des Mittagessens: Frédérique, schön, streng, verächtlich und voller Überdruss. Frédérique ist anders, etwas Leises und Schreckliches umgibt sie. Ihr sind Beherrschung, Gehorsam und Perfektion bereits zur zweiten Natur geworden. Die Erzählerin ist gebannt von ihrer Erscheinung, sie will sie erobern, sucht ihre Freundschaft. Empfänglich für den morbiden Reiz der Disziplin verfällt sie Frédérique mehr und mehr. Und erst ein ganzes Leben später kann die Erzählerin ihre abgründige Liebe in Worte fassen.
Beitragsbild © Effigie/ Bridgeman Images/Suhrkamp Verlag