Erich Hackl «Am Seil», Diogenes

«Am Seil» ist eine Heldengeschichte. Die Geschichte eines Mannes, der sich selbst nie zum Helden erklärt hätte und nur durch die Hartnäckigkeit der Geretteten und ihrer Nachfahren zu einem solchen, als «Gerechter unter den Völkern», erklärt wurde. Eine beispielhafte Geschichte aus der Zeit der schlimmsten Judenverfolgungen für eine Zeit der grössten globalen Fluchtbewegungen.

«Reinhold ist der Held meiner Geschichte. Nur seinetwegen erzähle ich sie.» Lucia Heilman

Ich begleite das Werk Erich Hackls schon drei Jahrzehnte und bin tief beeindruckt. Erich Hackl ist ein Anwalt derer, die keine Stimme finden. Sein Thema ist weder die eigene Befindlichkeit noch die Fiktion. Es sind Widerstandsgeschichten und fast immer auf authentischen Fällen basierend. Er setzt Denkmäler; sei es das eines in einem KZ ermordeten Romamädchens, eines verschleppten Opfers der argentinischen Militärjunta, seiner eigenen Mutter, die sich durch Kriegs- und Nachkriegsjahre kämpfen muss oder wie in «Am Seil» das stille Leben des Kunstschlossers Reinhold Duschka, der Lucia Heilman und ihre Mutter während viereinhalb Jahren in seiner engen Werkstatt versteckt und damit vor dem sicheren Tod rettet.

Erich Hackl lädt diese Geschichten aber nicht wie andere mit nachempfundenen Emotionen auf. Er dramatisiert nicht, wo es den Kern der Sache damit verfälschen würde. Erich Hackl zeichnet in knappen Strichen nach, skizziert Leben, Schicksale in seinen Ereignissen so klar und schlicht, dass die Figuren in der Fantasie des Lesers umso mehr wachsen und an Bedeutung gewinnen. Sie bleiben mit ihrer Geschichte authentisch.

Rudolf Kraus und Reinhold Duschka waren Freunde. Beste Freunde «zu einer Zeit, in der Männer noch beste Freunde und Frauen beste Freundinnen hatten, vor einer halben Ewigkeit also». Rudolf Kraus ist der Vater Lucia Heilmans. Aber Lucias Mutter meint zu Rudolf, er sei «anständig und gewissenhaft, hilfsbereit und alles, was du willst, aber als Ehemann wäre er nicht auszuhalten».

Als die Zeichen des Tausendjährigen Reiches, das Säbelrasseln und die Stiefelabsätze immer unüberhörbarer werden, als die kleine Lucia aus ihrer Schule verbannt werden und sie und ihre Mutter Regina bald darauf auch ihre Wohnung verlieren, Juden überall abgeführt und in Lastwagen wegtransportiert werden, um nie mehr wiederzukehren, finden Regina und ihre Tochter Lucia in der Werkstatt des Freundes ihres Vaters ein Versteck.

Der Kunstschlosser Reinhold Duschka ist nicht nur der Freund von Lucias Vaters, sondern auch ein Seilkamerad im Alpenverein, in den beide eintreten, ein Kletterkamerad. Als Kletterer weiss man; wer in Gemeinschaft am Berg, am Seil unterwegs ist, braucht unbedingtes Vertrauen. Auf-jemanden-angewiesen-sein ist keine Schwäche, sondern die einzige Chance zu bestehen. So auch in der Not des Weltkriegs, im Angesicht der Ausrottung ganzer Völker und damit der Menschlichkeit, all der Verfolgung und Denunziation. Reinhold Duschka leistet Widerstand, ohne diesen zu provozieren, «intelligenten Widerstand». Widerstand, der das eigene Risiko möglichst gering hält, ohne Zugeständnisse zu machen. Widerstand ohne Abenteuer.

Lucia und ihre Mutter Regina leben viereinhalb Jahre in der Werkstatt Reinhold Duschkas, der alles daran setzen muss, dass das Versteck nicht durch eine kleine Unvorsichtigkeit auffliegt. Jeder Gang zum Klo, jede Lebensmittelbeschaffung wird zum Wagnis, bis Lucia und Regina nur noch in Lumpen in der Werksatt herumhuschen, beschäftigt von Reinhold, abgelenkt nur durch die Erinnerung und Bücher, die Reinhold aus der Bücherei mitbringt.

Alle vier überleben den Krieg. 1990, drei Jahre vor Reinhold Duschkas Tod, wird ihm für seinen selbstlosen Einsatz die Auszeichnung «Gerechter unter den Völkern» verliehen. Erich Hackl hat uns diesen Mann zurück in die Erinnerung gebracht und damit ein deutliches Zeichen für jene Menschlichkeit gesetzt, die auch in der Gegenwart verloren zu gehen droht.

Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr, hat Germanistik und Hispanistik studiert und einige Jahre lang als Lehrer und Lektor gearbeitet. Seit langem lebt er als freier Schriftsteller in Wien und Madrid. Seinen Erzählungen, die in 25 Sprachen übersetzt wurden, liegen authentische Fälle zugrunde. «Auroras Anlaß» und «Abschied von Sidonie» sind Schullektüre. Unter anderem wurde er 2017 mit dem Menschenrechtspreis des Landes Oberösterreich ausgezeichnet.

Interview mit Erich Hackl

Lucia Heilman erzählt in der ORF TVthek.

Erich Hackl liest u. a. am 10. Dezember im Aargauer Literaturhaus Lenzburg.