Benjamin Berton, Julia Deck, Doris Dörrie, Tomás González, Luke Haines, Christoph Höhtker, Barbara Hundegger, Kim Hye-jin, Boris Kerenski, Ana Marwan, Hanspeter Müller-Drossaart, Andreas Niedermann, Paul Renner, Edgar Selge, Lea Streisand, Paulina Stulin – und ein nach Literatur dürstendes Publikum.
Nach zwei Jahren, während derer man gezwungen war, die Veranstaltungen bloss digital durchzuführen, wurde die 20. Ausgabe des Internationalen Literaturfestivals „Sprachsalz“ zu einem Fest weit über das Jubiläum hinaus. Wer weiss denn schon, wie lange und wie befreit man solche Veranstaltungen geniessen kann, bevor sich wieder eine Welle der Angst über den Globus ergiesst.
„Sprachsalz“ ist ein Festival der Nähe. Es gibt keine Tische, an denen sich nur Eingeweihte, Eingeladene, LiteratInnen treffen und man sich als Besucher kaum in die Nähe traut, keine VIP-Zonen, obwohl grosse Namen neben Geheimtipps auftreten, nirgends Gehabe, auch wenn wie vor drei Jahren eine Nobelpreisträgerin an der Festivalbar sitzt und an einem Glas Wasser nippt (Herta Müller). „Sprachsalz“ ist ein Festival der Grosszügigkeit. Getragen von einem breiten Feld von Sponsoren ist der Eintritt frei, die Festivalleitung unkompliziert und ganz offensichtlich auch für die Eingeladenen eine „Bereicherung“.
Wer regelmässig solche Festivals besucht, ist neugierig auf Begegnungen, auch auf die Chance, ein Leseerlebnis mit einer realen Auseinandersetzung zu verbinden; einem Gesicht, einer Stimme, einem kurzen oder längeren Gespräch, Augenblicken, die sich einbrennen. Unvergessen bleiben werden mir jene mit der Slowenin Ana Marwan und mit dem Kolumbianer Tomás Gonzáles. Ich werde ihre Bücher nach Hause tragen, in meiner Bibliothek einordnen – und wenn meine Blicke in Zukunft auf ihren Buchrücken hängen bleiben, wird etwas von dem aufblitzen, was mich am „Sprachsalz“ in Verzückung brachte.
Als ich Ana Marwans Debüt „Der Kreis des Weberknechts“ im Herbst 2019 über den Sonderling Karl Lipitsch las, war die Lektüre eine Offenbarung, als hätte sich ganz unerwartet ein Tor zu einem grossen Geheimnis geöffnet. Ein Lesegefühl, das sich nur ganz selten einstellt. Da schrieb jemand ganz sanft, fein beobachtend, mit schneidendem Witz und höchster Präzision. Als Ana Marwan im Sommer 2022 am Bachmannpreislesen den mit 25000 Euro dotierten Hauptpreis gewann, war das mehr Bestätigung als Überraschung. „Die Autorin führt die deutsche Sprache, als hätte sie nie in einer anderen Sprache gelebt. Sie treibt das Deutsche vor sich her“, meinte Klaus Kastenberger, Jurymitglied, bei der in Klagenfurt gehaltenen Laudatio.
Dass Ana Marwan mit ihrem zweiten Roman im März 2023 Gast, mein Gast im Literaturhaus Thurgau sein wird, freut mich nach der Begegnung in Hall noch viel mehr. Sie liest und diskutiert am Donnerstag, den 23. März im schmucken Literaturhaus in Gottlieben TG!
Ein zweites Highlight mit viel Vorfreude war die Begegnung mit Tomás Gonzáles. Einem Grossen, der trotz vieler Fürsprecher ein Geheimtipp geblieben ist. Ein Schriftsteller, der mit seinem Schreiben nicht in die „Kategorie“ Magischer Realismus verortet werden kann, denn seine Themen, sein Personal, seine Kulissen sind immer ganz nahe an der Realität, oft im Spannungsfeld zwischen Schmerz und Schönheit. Deshalb darf der Tiel seines aktuellen Erzählbandes „Die stachelige Schönheit der Welt“ durchaus als Programm seines Schreibens gesehen werden.
Ich lernte die Bücher des Autors 2012 schätzen, als ich ihn mit „Das spröde Licht“ zu lesen begann, einer Geschichte, mit der er das langsame Sterben seiner an MS erkrankten Frau literarisch verarbeitete. Doch Tomás Gonzáles rapportiert nicht einfach den Leidensweg seiner Frau, sondern transformiert sein Erleben in eine fiktive Familie, in der der älteste Sohn nach einem Unfall, der ihn vom Hals abwärts lähmt, in seinen Schmerzen eine ganze Familie, die Liebe an einen Abgrund reisst.
„Glühwürmchen“, eine der dreizehn Erzählungen aus 30 Jahren in „Die stachelige Schönheit der Welt“, erzählt von Atilano und Jesús, einem Paar, zweier Männer, zweier Künstler, der eine weg, wegen eines Stipendiums in Florenz, der andere in Queens. Beide entfernen sich, Jesús nach Italien in die Fremde, eine andere Welt, Atilano in die Wut, den Schmerz, die Enttäuschung und Verzweiflung eines Zurückgelassenen. Die Sprache ist glasklar. Es sind keine Geschichtchen. So nah der Schriftsteller seinen Personen kommt, so fern ist ihm jegliches Moralisieren.
Schreiben sei keine Schmerztherapie, sondern die Erschaffung von etwas Neuem, eine Umwandlung, die den Schmerz vielleicht leichter machen kann, meinte Tomás Gonzáles im Gespräch mit seinem Übersetzer und Mentor Peter Schultze-Kraft. Tomás Gonzáles lebte fast zwei Jahrzehnte im freiwilligen Exil in Florida und New York. Seine Sprache war damals das einzige, was er aus seiner Heimat mitnehmen konnte, aus jener Welt, die er zurücklassen musste. Schreiben wurde zu einer Art Wiedererschaffung seiner Heimat, ein Weg, seine Sehnsucht zu überwinden.
Peter Stamm sagte über ihn: «González schreibt einen sehr trockenen, aber zugleich unglaublich atmosphärischen Stil. Die Geschichten sind dunkel, aber es ist, als leuchteten sie von innen.»
„Die stachelige Schönheit der Welt“ von Tomás Gonzáles ist ein wunderbares Tor in den Kosmos eines Grossen!
Rezension von «Der Kreis des Weberknechts» auf literaturblatt.ch