Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf … über «Die Nulllinie» von Szczepan Twardoch (21)

Lieber Gallus

Du hast mir gesagt, dass du das Buch «Nulllinie» nach Beginn der Lektüre weggelegt hast, dass es dich nicht angesprochen habe. Da mich dieses Buch mit seiner Aktualität nicht loslässt und nachhaltig verfolgt, möchte ich trotzdem darauf zurückkommen. Kann man, soll man vom Krieg schreiben? In meinem Kopf klingt gleichzeitig die Klagenfurter Rede 2023 der ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk an: Ich betrachte mich selbst als gebrochene Autorin, eine ehemalige Autorin, eine Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und – schlimmer noch – in die Sprache verloren hat. Die Sprache, die schönste Gedichte hervorbringt, kann auch dazu dienen, Befehle kundzutun, zum Abschuss von Raketen, die Zivilisten töten, oder zum Vorrücken von Panzern.

Szczepan Twardoch «Die Nulllinie», Rowohlt, 2025, aus dem Polnischen von Olaf Kühn, 256 Seiten, CHF. ca. 35.90, ISBN 978-3-7371-0209-4

Der polnische Schriftsteller Twardoch war mehrmals mit Hilfsgütern an der Front und hat die Nulllinie hautnah unter Lebensgefahr miterlebt. Bei Twardoch wird Krieg als Grenzsituation des Mensch-Seins erfahrbar durch gekonnt in Sprache umgesetzte Handlungen, Dialoge und Reflexionen der Soldaten. An der Front gelten andere Werte bei Schlamm, Kälte, ständiger Bedrohung des Lebens in Gräben und feuchten Unterständen und Isolation. Weit weg, fast nicht mehr erinnerbar, ist das Leben der Kämpfer vor dem Krieg. Die Sprache ist grob, aber sehr treffend und verstärkt die Absurdität des Geschehens. Literarisch gelingt es dem Autor einzigartig darzustellen, was ein Krieg mit uns Menschen macht.

Menschenleben sind nur in der hübschen Theorie gleich viel wert, in der Praxis hat jedes Menschenleben seinen eigenen Wert. Der Wert deines Lebens, Koń, ist sehr gesunken, noch nie in deinem fünfundvierzigjährigen Leben warst du so wenig wert wie heute.

Aber vielleicht, denkst du, bauen wir ja auf, indem wir zerstören? Kann man überhaupt etwas aufbauen, indem man tötet? Warum bin ich überhaupt hier, fragst du dich, während du das Nachtsichtgerät am Helm montierst. Was hat bewirkt, dass ich in meinem völlig ausgebrannten Ich die Energie fand, hierherzukommen und dann den Vertrag zu unterschreiben – doch nicht etwa der Wunsch zu zerstören, der Wunsch zu töten?

Mitleid hattest du nicht mit denen, die du getötet hast, aber Hass auf sie empfandest du auch selten. Wenn du jemanden verloren hast, der dir nahestand, Koń, dann empfandest du Hass, doch er war nicht gegen einen konkreten Menschen gerichtet, eher gegen ein Kollektiv, dieses Ganze, Russland, das mehr ist als die Summe aller Russländer, nur deshalb wolltest du die Letzteren töten.

Ich verstehe sehr wohl, dass der mehrjährige und intensiv andauernde Krieg die Sprache beeinträchtigt, verunmöglicht, tötet und verstummen lässt. Andererseits bin ich dankbar um «Nulllinie», dass ich nachvollziehen kann, was an der Front abgeht, wie heute mit Einsatz moderner Waffen Krieg geführt wird. Fasziniert und aufgewühlt nehme ich das Buch wieder in die Hand und versuche, das Unbegreifliche zu verstehen.

Hoffen wir, dass das Unwetter bald vorbei ist und die Blüte am Ast wirken kann, wie Tanja Maljartschuk in ihrer Rede auch sagt: Ich verdanke alles in meinem Leben der Literatur, die ich mir als Blüte am Ast eines Baumes vorstelle. Einerseits ermöglicht sie die Fortpflanzung der Ideen und doch fällt sie bei einem Unwetter als erste ab.

Kannst du mir mitteilen, was dich am Weiterlesen von «Nulllinie» gehindert hat? Warum du das Buch weggelegt hast? Ist es die rohe Sprache?

Herzlich

Bär

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Lieber Bär

Wahrscheinlich ist die Antwort auf Deine unbequeme Frage eine ganz banale. Ich legte das Buch wohl aus Feigheit weg. Ich hatte genug von den Schilderungen all der Gewalt, des Krieges, der Ungleichheiten, der Ungerechtigkeiten, den Schimpftriaden, dem Dreck des Krieges. Ich war feige, weil nichts mehr geblieben war, von der Neugier, der Lust, immer mehr zu erfahren, einen Einblick zu gewinnen. Weil es ein Durchbeissen geworden wäre. Ich war feige, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, an der imaginären Seite von Koń in den Krieg zu ziehen, einen Krieg, der in seiner Brutalität und Banalität alles verloren hat, was heroische Gefühle auslösen, meinen Glauben bestärken könnte, es gäbe eine gute Seite und eine schlechte Seite.

Szczepan Twardoch, der selber ukrainische Wurzeln hat, hat nichts erfunden, auch wenn er nicht wie sein Protagonist in den hoffnungslosen Schützengräben kämpfte. Twardoch war da, konnte aber im Gegensatz zu den Soldaten das Schlachtfeld jederzeit verlassen. Was er in seinem Roman schreibt, lehnt sich so nah an das wirkliche Geschehen, dass es im Kontrast zu all der geschilderten Technik schmerzhaft grotesk wirkt. Kriege sind technische Machtdemonstrationen, bei denen Soldaten zum Schmiermittel werden. Ich war zu feige, um mir das 250 Seiten lang um die Ohren schlagen zu lassen.

Ich schätze Szczepan Twardoch sehr, sowohl als Mensch wie als Schriftsteller. Ich liebe seine Romane, die wie alles, was er schreibt, weit über die Schmerzgrenze hinausgehen. Ich bewundere ihn für seinen Mut, einen Mut, bei dem es nicht um schriftstellerisches Säbelrasseln geht, sondern um das, was man als Schriftsteller*in tun kann, angesichts eines solchen Krieges; mit Sprache kämpfen.

Vor nicht allzu langer Zeit las ich von Serhij Zhadan „Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg“. „Himmel über Charkiw“ will keine «Literatur» sein, sondern Zeugnis. Eine Stimme aus dem Innern des unverschuldeten Höllenfeuers, eine Stimme des Trotzes, eine Stimme, die um keinen Preis dieses eine verlieren will; die Hoffnung, dass dereinst der Krieg vorbeisein wird, dass die Gerechtigkeit siegen wird. Begriffe wie „Sieg“, „Helden“, die der Autor vor dem Einmarsch, selbst nach der Annexion der Krim, nie in den Mund, schon gar nicht ins Netz geschickt hätte. Ein Facebook-Tagebuch des offenen Widerstands.


Auch wenn ich «Nulllinie» weggelegt habe, sagt das nichts über die Qualität des Buches, sondern nur etwas über mich selbst. Bücher wie «Nulllinie» sind wichtig, weil die Literatur in uns Bilder erzeugt, die hängen bleiben, während wir die Bilder aus den Medien, die Bilder von brennenden Autos, zerbombten Städten, Leichen auf den Strassen und weinenden Kindern längst schlucken können wie bittere Pillen. Niemand stumpf ab, weil er/sie liest. 

In einem Interview mit rbb sagt Szczepan Twardoch: Dieser Krieg ist so nah an meinem Zuhause. Er ist so nah an der Grenze meines Landes. Er betrifft mich so sehr, dass ich ihn nicht ignorieren konnte. Ich verspürte diesen Drang zu helfen, zumindest auf diese bescheidene Art und Weise, die mir möglich ist, zum Beispiel durch Spendensammeln, den Kauf von Ausrüstung wie Autos, Drohnen, Zielfernrohren für Gewehre und so weiter. Einfach um bei diesem grossartigen und zugleich edlen Bemühen zu helfen, Menschen zu verteidigen, die so leben wollen, wie sie leben wollen, und nicht auf eine Art und Weise, die ihnen aufgezwungen werden soll.

Lieber Bär, vielleicht nehme ich «Nulllinie» doch noch einmal zur Hand.

Bis bald

Gallus

© Jacek Poremba

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt, zum Teil verfilmt. «Morphin» (2012) wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet. Für den Roman «Drach» wurden der Autor und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumił-Linde-Preis, 2025 den Usedomer Literaturpreis. Zuletzt erschienen die hochgelobten Romane «Der Boxer» und «Kälte«. Er lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.