Das schmale Buch begleitet mich seit Monaten in meinem Gepäck, in meiner Tasche, wenn ich unterwegs bin, bleibt manchmal neben meinem Bett liegen, erinnert mich im Zug. Und nehme ich einen Zug, denn Joseph Zoderers Gedichte in seinem Band «Die Erfindung der Sehnsucht» sind genau einen Atemzug lang, einen Atemzug, den man immer wieder macht, ganz tief, um das Fluidum an Sprache und Lebensessenz immer und immer wieder hineinzuziehen, dann sind es ganz tiefe Züge.
Ich hätte Joseph Zoderer gerne in seinem Arbeitszimmer in Bruneck besucht, in dem er wochentags schreibt, ein Mann, der in Meran geboren wurde und im Südtirol zu den Grossen gehört. In Bruneck schreibt er in einer Fabrikantenvilla und wandelt durch Räume, sinnbildlich und wirklich, an Wänden vorbei, an denen er die Manuskriptseiten seiner aktuellen Arbeiten aufhängt, als müsste er sich der Spur seines Tuns mit jedem Morgen gewahr werden, wenn er den Ort betritt, wo seine Bücher entstehen.
Es muss eine Tür
aufgehen in der finsteren Wand
wo dein Erschrecken kauert
du musst den weissen Kiesel
wieder finden und den Weg
des Kindes
das du warst
Joseph Zoderer, der neben seinem umfangreichen belletristischen Werk seit den 50er Jahren Gedichte schreibt und seine ersten damals in einer Schweizer Wochenzeitschrift für 20 Franken veröffentlichte, ist jemand, der noch immer Fragen stellt, sich um das Existenzielle bemüht, der noch immer mit sich und der Welt ringt, obwohl er sich selbst als glücklichen und zufriedenen Menschen bezeichnet.
Die falschen Steine umgedreht
das falsche Gras mit den Fingern gekämmt
meine Worte irrten
zwischen Wolken umher
du hast sie für Sterne gehalten
Ich fand kein Wort für Ewigkeit
aber ich sah die Wehrlosigkeit deiner Augen
Er wolle die hintersten Seiten der Seele aufs Papier bringen, sagt Joseph Zoderer in einem Interview. Seine Lyrik bleibt stets ganz nah an seiner Person, ist ehrlich, teilt sich einem in einer Intensität mit, die fast verlegen macht, in der man sich ertappt, zur Reflexion gezwungen fühlt. Seine Gedichte sind Fragestellungen an sein Leben, Innenansichten, die nach Aussen leuchten, sprachliche Diamanten, die beim mehrmaligen Lesen das Licht ganz verschieden zu brechen vermögen.
Dich verlieren
um den lebenden Tod zu fühlen
dich immer suchen auch wenn
du vor mir stehst
Joseph Zoderer schreibt in seiner Schreibstube von Hand, mit einem Füller. So körperlich das Schreiben ist, so körperlich ist die Auseinandersetzung mit den Gefühlswelten einer empfindsamen Seele. «Schreiben ist Heimat, nichts Statisches, etwas, das mit dem Schreiben wächst.» Auch wenn Josephs Zoderers Lyrik nach Innen schaut, sind es die grossen Themen, die ihn bewegen; die Liebe, Freundschaft, der Schmerz, Sehnsucht und Erfüllung, das Glück.
Mein Bruder besuchte mich bei meinem Schreibaufenthalt in Meran, der Geburtsstadt des Autors. Er kaufte sich in einer der Buchhandlungen am Platz auf meine Empfehlung das Buch «Die Erfindung der Sehnsucht» für seine Reise nach Hause im Zug. Als er Stunden später nach Hause kam, schrieb er mit eine Mail mit einem der Gedichte aus dem Buch. Und es war wie ein Echo.
Ein Buch, das man wie ein Brevier mit sich tragen sollte. Gedichte, die Lesende selbst aufschlüsseln können. Gedichte, die manchmal trösten, aber auch provozieren können, weil sie gegen scheinbare Leichtigkeit antreten.
Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther-von-der-Vogelweide-Preis (2004). Vom Autor des Romans „Die Walsche“ (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen bei Haymon zuletzt: „Das Glück beim Händewaschen“. Roman (HAYMONtb 2009), „Die Farben der Grausamkeit“. Roman (2011, HAYMONtb 2014), „Mein Bruder schiebt sein Ende auf“. Zwei Erzählungen (2012) und „Hundstrauer“. Gedichte (2013). 2017 erscheinen „Die Erfindung der Sehnsucht“. Gedichte und „Das Haus der Mutter“. Theaterstück und Erzählung (HAYMONtb).
Seit 2015 wird das Werk von Joseph Zoderer, einem der führenden Erzähler der Gegenwartsliteratur, in Einzelbänden neu aufgelegt. In Zusammenarbeit mit Johann Holzner und dem Brenner-Archiv Innsbruck wird jeder Band durch ein Nachwort sowie interessante Materialien aus dem Vorlass des Autors ergänzt. Davon bisher erschienen: „Das Schildkrötenfest“. Roman (2015), „Dauerhaftes Morgenrot“. Roman (2015) und „Die Walsche“. Roman (20016), 2017 folgt „Lontano“. Roman.
Beitragsbild © Sandra Kottonau